Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Dummheit, ihren psychopathischen Zügen und einer verkorksten Selbstwahrnehmung geschuldet und selbstverständlich kann ich mit so etwas umgehen. Aber ich treffe doch lieber meine Vorkehrungen.«
»Welche?«
»Ich habe eine Anfrage in der Vereinigung laufen. Bald werden wir wissen, ob sie tatsächlich so krank ist, wie sie uns in ihrem Brief glauben machen will.«
Curt Wad erhielt bereits am nächsten Morgen Antwort auf seine Anfrage, und seine Vermutung bestätigte sich.
Seit dem Verkehrsunfall des Ehepaars Rosen im November 1985 war eine Person mit dieser Personennummer weder in den Krankenakten eines öffentlichen Krankenhauses noch in denen einer Privatklinik geführt worden. Zwei Ausnahmen: ein Aufenthalt im Krankenhaus von Nykøbing Falster und zwei Halbjahreskontrollen, einmal im selben Krankenhaus und einmal im Kopenhagener Rigshospital.
Worauf wollte diese Nete Hermansen also hinaus? Warum zum Teufel log sie? Ja, klar. Sie wollte ihn in ihr Netz locken - mit freundlichen Worten und plausiblen Erklärungen, warum sie ausgerechnet jetzt auf ihn zukam. Aber was hatte sie vor, was beabsichtigte sie zu tun, wenn er kam? Sollte er bestraft werden? Oder war es ein Versuch, ihn aus der Deckung zu locken? Glaubte sie etwa, er sei nicht Manns genug, um auf sich aufzupassen? Glaubte sie, ihm mit einem Tonbandgerät irgendwelche Eingeständnisse entlocken zu können?
Er schnaubte.
Was für eine absurde Vorstellung. Was für ein naives Weibsbild. Wie konnte sie glauben, enthüllen zu können, was er seinerzeit mit ihr gemacht und was Rechtsanwalt Nørvig längst hinreichend widerlegt hatte?
Curt Wad lachte auf bei diesem Gedanken. Er war jederzeit in der Lage, binnen zehn Minuten eine Gruppe starker, dänisch gesonnener Jungs zu mobilisieren, die, wenn nötig, auch mal ziemlich böse werden konnten. Folgte er der Einladung und erschien am Freitag in Nete Hermansens Wohnung mit diesen Männern an seiner Seite, dann würde man schon sehen, wer abgestraft und wer überrascht würde.
Ein sehr verlockender Gedanke, aber für Freitag war bereits eine Gründungsveranstaltung in der neuen Regionalgruppe von Hadsten angesetzt. Das Amüsement musste also hinter wichtigeren Aufgaben zurückstehen.
Er schob ihren Brief über die Schreibtischkante, sodass er im Papierkorb landete. Sollte sie irgendwann einen neuen Versuch starten, würde er ihr ein für alle Mal und mit allen Konsequenzen zeigen, wer hier wen in der Hand hatte.
Er betrat sein Sprechzimmer und zog den Arztkittel über. So ganz in Weiß strahlte er doch noch immer am meisten Autorität und Können aus.
Dann setzte er sich an den Glastisch, griff nach seinem Kalender und sah die anstehenden Termine durch. Der Tag würde in keiner Weise hektisch werden. Eine Überweisung für eine Abtreibung, drei Fertilitätsberatungen, noch eine Überweisung und dann der einzige Fall für den Geheimen Kampf.
Die erste Patientin war eine hübsche, zurückhaltende junge Frau. Dem überweisenden Arzt zufolge eine gesunde, kultivierte Abiturientin, die von ihrem Freund im Stich gelassen worden war und infolge der daraus resultierenden Depression abtreiben wollte.
»Sie heißen Sofie?«, fragte er und lächelte sie an.
Sie presste die Lippen zusammen. Schon da war sie kurz davor, zusammenzubrechen.
Curt Wad sah sie an, ohne etwas zu sagen. Sie hatte schöne blaue Augen. Eine zarte hohe Stirn. Elegant geschwungene Augenbrauen und eng am Kopf anliegende Ohren. Gut proportioniert, durchtrainiert, schlanke Hände.
»Ihr Freund hat Sie verlassen, Sofie, und das ist sehr traurig für Sie. Sie hatten ihn offenbar wirklich gern.«
Sie nickte.
»Weil er ein sympathischer und gut aussehender junger Mann war?«
Wieder nickte sie.
»Aber kann es sein, dass er vielleicht auch ein bisschen dumm war, als er sich für die simpelste Lösung entschied und einfach ging?«
Sie protestierte, genau wie er vermutet hatte.
»Nein, er ist nicht dumm. Er studiert an der Uni, genau wie ich es auch vorhabe.«
Curt Wad neigte sanft den Kopf. »Ihnen gefällt das hier nicht sonderlich, Sofie, hab ich recht?«
Sie senkte den Kopf und nickte wieder. Schon kamen die ersten Tränen.
»Sie sind zurzeit im Schuhgeschäft Ihrer Eltern angestellt, ist das nicht sehr schön?«
»Doch, aber das ist nur für den Moment. Geplant ist, dass ich studiere.«
»Was sagen Ihre Eltern dazu, Sofie, dass Sie abtreiben wollen?«
»Die sagen nichts. Die sagen, das sei meine Entscheidung. Die mischen sich nicht
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