Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Caroline

Caroline

Titel: Caroline Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
Vom Netzwerk:
kochen und das Frühstück zubereiten konnte; die übrigen Mahlzeiten nahm er wahrscheinlich bei den Siebers ein.
    Ich wanderte herum, fasste nicht zu viel an und verstand die Welt nicht mehr. Das machte mich misstrauisch. Ich hatte mit pathologischen Kriminellen und den typischen Anwälten für Häftlinge in Sicherheitsverwahrung zu tun gehabt, denen es gelungen war, ihre Mandanten schließlich und endlich freizubekommen, obwohl allen klar war, dass sie trotz der langen Haft und den Therapien häufig nicht ›geheilt‹ waren. Ich hatte Fälle von ›Besserung‹ erlebt, die sich eine Weile lang halbwegs vernünftig benahmen, bis wir sie erneut jagen mussten, weil ihre latente Triebhaftigkeit wieder aufflackerte, hervorgerufen durch unregelmäßige Medikamenteneinnahme, durch das aufreizende Verhalten einer Frau oder, noch schlimmer, die erregende Unschuld eines Kindes.
    Vielleicht bricht irgendwann einmal die glorreiche Zeit an, in der wir alle weise und geistig erwachsen geworden sind und niemand mehr das Bedürfnis empfindet, Macht über andere auszuüben oder einen anderen Menschen jener primitiven Form der Lust zu unterwerfen, die noch aus der Höhlenzeit stammt. Zwar hält der Zivilisationsprozess bereits seit ein paar tausend Jahren an, je nach Rechnung oder Betrachtungsweise auch seit ein paar Millionen, aber noch immer schlagen wir uns gegenseitig den Schädel ein und setzen Vergewaltigung als Mittel für ethnische Säuberungen ein.

Nach Ansicht von Mevrouw Siebers war Bertus ein wenig zurückgeblieben. Nach Ansicht des Polizeibeamten, der ihn damals verhaftet hatte, als er inmitten der Schafe jammernd neben der Leiche der erwürgten Denise hockte, war er ein sexbesessener Schwachsinniger.
    In Drenther Dörfern mit Namen wie Spijkerboor, Zwartschaap, Grolloo und Amen konnte man den Dorfdeppen mit dem gekrümmten Rücken noch förmlich vor Augen sehen, ein Bertus in Hochwasserhosen, dem die Schulkinder hinterher johlen: Bertus ist blöd, Bertus ist blöd, blöd, blöd, ein sabbernder Buckliger, von einem Holzschuh auf den anderen hüpfend, zwei schwarze Zahnstummel im offenen Mund. In seinem schief gelegten Kopf wohnt ein zu schwacher Verstand, um das Leben überblicken oder wenigstens den vorübergehenden Charakter von Ereignissen begreifen zu können. Er kann weder in eine andere, weiträumigere Dimension noch in eine andere Zeit entfliehen; sein Kopf ist bis zum Bersten mit dem schrecklichen Heute erfüllt, dem Jetzt, in dem er von seinen Quälgeistern terrorisiert wird, in dem er den Urin die Beine hinunterlaufen fühlt und innerlich stirbt, jedes Mal aufs Neue.
    Ich saß auf dem geblümten Sessel neben dem Ficus auf der Fensterbank, der Bertus’ Fernsehsessel zu sein schien, da der Apparat gegenüber auf einem Schrank stand. Ich hatte den Schrank durchsucht; es waren Puzzlespiele darin, die meisten mit hundert beziehungsweise zweihundertfünfzig Teilen, für Bertus das maximal Machbare.
    Puzzlespiele und die Kinderbibel.
    In der Welt jenseits des Fensters herrschte Totenstille, bis auf das Rauschen des Regens, der auf den Wohnwagen prasselte. Die Sauberkeit hier drinnen gemahnte in ihrem beengenden und geistlosen Charakter an eine religiöse Sekte. Ich wagte es nicht, mir eine Zigarette anzuzünden; hier wurde nicht geraucht.
    Bertus war ein Vergewaltiger und Mörder, und ich konnte kaum glauben, dass zehn Jahre Gefängnis, fünf Jahre offener Vollzug und ein Jahr beim Bauern ihn zum heiligen Franziskus gemacht hatten.
    Der Regen dämpfte das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür, doch ich nahm einen huschenden Schatten wahr. Die Flurtür schwang auf, und noch bevor ich aus meinem Sessel aufstehen konnte, stand Bertus im Wohnwagen.
    »Was für eine Untersuchung?«, fragte er ohne Überleitung. »Es war doch jetzt gut?« Seine Stimme klang heiser und ein wenig zu hoch. Vielleicht hatte er Angst, dass meine Anwesenheit das Ende seines Aufenthalts bei den Siebers bedeuten würde.
    »Bertus Tons?« Ich erhob mich.
    Bertus blieb abwartend stehen. Er trug graue Stricksocken unter einem blauen Overall, dessen Hosenbeine um die Waden herum verknittert waren, wo sie in den Gummistiefeln gesteckt hatten. Er war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut. Er hatte dickes flachsblondes Haar und ein rundliches gerötetes und ein wenig teigig wirkendes Gesicht. Seine haselnussbraunen Augen huschten scheu hin und her, doch er sagte nichts, sekundenlang.
    Mich beschlich das Gefühl, dass er nicht aus

Weitere Kostenlose Bücher