Carre, John le
im
Strahl der Leselampe durchsichtig wurde. Dann tätschelte Onkel Anton Alexandra
die Schulter, als sei sie fünfzehn und nicht fünfundzwanzig oder zwanzig oder
wie alt auch immer sie war, als sie die verbotenen Teile ihres Lebens
abgekappt hatte. Sie sah zu, wie er zur Tür und dann zum Rad watschelte. Sie
beobachtete, wie sein Strampeln immer regelmäßiger wurde, als er von ihr weg
an Krankos Pförtnerhaus vorbei den Hügel hinab zum Dorf fuhr. Und dabei sah sie
etwas Merkwürdiges, etwas, was nie zuvor passiert war, zumindest nicht Onkel
Anton. Aus dem Nichts tauchten zwei entschlossene Gestalten auf, ein Mann und
eine Frau, die ein Motorrad schoben. Sie mußten auf der Sonnenbank auf der
anderen Seite des Pförtnerhauses gesessen haben, hatten sich vor den Blicken
verborgen, vielleicht um sich zu lieben. Sie schwenkten in die Straße ein und
starrten ihm nach, stiegen aber nicht auf ihr Motorrad, noch nicht. Sie
warteten, bis er fast außer Sicht war, bevor sie hügelab hinter ihm herfuhren.
Nun entschloß Alexandra sich zu schreien, und diesmal fand sie ihre
Sprechstimme, und der Schrei zerriß das Haus vom First bis zum Grund, bis Schwester
Béatitude sich auf sie stürzte, um sie mit einem heftigen Schlag auf den Mund
zu zähmen.
»Es sind dieselben Leute«, erklärte
Alexandra.
»Wer, es?« fragte Schwester
Beatitude, die Hand erhoben für den Fall, daß sie sie nochmals benötigen würde.
»Wer sind dieselben Leute, du böses Mädchen?«
»Die Leute, die meiner Mutter
nachgegangen sind, bevor sie sie weggezogen und umgebracht haben.«
Schwester Beatitude schnaubte
ungläubig. »Mit Rappen, wahrscheinlich!« spottete sie. »Auf einem Schlitten
quer durch Sibirien gezogen.«
Alexandra hatte diese
Geschichten schon mehrmals ausgesponnen. Daß ihr Vater ein Fürst war,
mächtiger als der Zar. Daß er nachts herrschte, wie die Eulen, wenn die Falken
ruhen. Daß seine grauen Augen ihr überallhin folgten, daß seine geheimen Ohren
jedes Wort hörten, das sie sagte. Und daß er eines Nachts, als er ihre Mutter
im Schlaf beten hörte, nach seinen Männern schickte, die sie mit in den Schnee
hinausnahmen. Niemand hat sie je wiedergesehen, nicht einmal der liebe Gott, er
schaut immer noch nach ihr aus.
24
Das Verbrennen von »Tricky Tony« -
so der launige Codename, den Grigoriew von seinen Beschattern erhielt - ging
später in die Circus-Mythologie als eine jener seltenen Operationen ein, bei
denen sich Glück, Zeitwahl und organisatorische Vorbereitung zur idealen
Verbindung zusammentaten. Allen Beteiligten war von Anfang an klar gewesen, daß
es darum ging, Grigoriews allein habhaft zu werden, und zwar bei einer
Gelegenheit, die ein paar Stunden später eine reibungslose Rückführung in sein
normales Leben ermöglichen würde. Doch bis zum Wochenende nach dem Einsatz in
der Thuner Bank hatte die intensive Ausforschung von Grigoriews
Verhaltensmuster noch keine klaren Hinweise darauf ergeben, wann eine solche Gelegenheit
eintreten werde. Skordeno und de Silsky, Tobys harte Männer, entwarfen in
ihrer Verzweiflung bereits den hirnrissigen Plan, Grigoriew auf dem Weg zur
Arbeit zu schnappen, irgendwo an den paar hundert Metern zwischen seinem Haus
und der Botschaft. Toby winkte sofort ab. Eines der Mädchen bot sich als Lockvogel
an: Vielleicht könnte sie sich als Anhalterin an Grigoriew heranmachen? Ihre
noble Geste erntete Beifall, die praktische Durchführbarkeit war jedoch gleich
null.
Das Hauptproblem war, daß Grigoriew
unter doppelter Bewachung stand. Nicht nur hielten die Sicherheitsbeamten der
Botschaft routinemäßig ein Auge auf ihn; seine Gattin stand ihnen an
Wachsamkeit nicht nach. Die Observanten waren überzeugt, daß Madame Grigoriewa
den Gatten einer kleinen Schwäche für Klein-Natascha verdächtigte. Diese
Überzeugung bestätigte sich, als es Tobys Lauschtrupp gelang, den Kabelkasten
an der Straßenecke anzuzapfen. Während eines einzigen Tages rief die Grigoriewa
ihren Mann nicht weniger als dreimal an, nur um sich zu vergewissern, daß er
wirklich noch in der Botschaft war. »George, ich meine, dieses Weib ist ein
Ungeheuer«, wetterte Toby, als er davon erfuhr. »Liebe - ich meine, alles recht
und schön. Aber totale Besitzergreifung, das verurteile ich absolut. Für mich
ist das eine Prinzipfrage.«
Das einzige schwache Glied in der
Kette war Grigoriews regelmäßige Donnerstag-Nachmittagsfahrt zur
Autowerkstatt, wo er den Mercedes nachsehen ließ. Wenn ein
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