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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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alles nach unten
und machte daraus eine Schaubühne mit Kerzen, einer Jungfrau und dem
Christkind. Alexandra wußte das, denn Felicitas hatte sie kommen lassen und
neben sich gesetzt, ihr laut alte russische Gebete vorgelesen und Stücke aus
der Liturgie im Marschrhythmus vorgesungen, ihr Plätzchen und Punsch gegeben,
nur um russische Gesellschaft zu haben an ihrem Namenstag- oder war es Ostern
oder Weihnachten gewesen? Die Russen sind die besten Menschen der Welt, hatte
sie gesagt. Trotz der vielen Pillen, die sie genommen hatte, wurde Alexandra
allmählich klar, daß Felicitas-Felicitas stockbetrunken war. Sie hob ihr die
Beine hoch, legte ein Kissen für sie zurecht, küßte sie aufs Haar und ließ sie
auf dem Tweedsofa einschlafen, auf dem die Eltern saßen, wenn sie neue
Patienten anmeldeten. Es war dasselbe Sofa, auf dem Alexandra nun saß und auf
Onkel Anton starrte, der das kleine Notizbuch aus der Tasche zog. Sie bemerkte,
daß er seinen braunen Tag hatte: brauner Anzug, braune Krawatte, braunes Hemd.
    »Du solltest dir braune Hosenklammern
kaufen«, sagte sie zu ihm auf Russisch.
    Onkel Anton lachte nicht. Um sein
Notizbuch war ein strumpfbandartiges Stück Gummi geschlungen, das er jetzt wie
widerwillig löste, während er die offiziellen Lippen befeuchtete. Manchmal
hielt Alexandra ihn für einen Polizisten, manchmal für einen verkleideten
Priester, manchmal für einen Rechtsanwalt oder Schullehrer und manchmal sogar
für eine besondere Art von Arzt. Doch was immer er auch war, er wollte ihr
durch das Gummiband und das Notizbuch sowie durch den Ausdruck nervösen
Wohlwollens klar zu verstehen geben, daß es da ein Höheres Gesetz gab, für das
weder er noch sie persönlich verantwortlich waren, daß er nicht ihr
Kerkermeister war, daß er sie, wenn schon nicht um ihre Liebe, so doch um
Vergebung für die Umstände bat, die ihn zwangen, sie von der Welt abzuschließen.
Und sie sollte auch wissen, daß er traurig war, sogar einsam und ganz
sicherlich ihr zugetan und daß er in einer besseren Welt der Onkel gewesen
wäre, der ihr getreulich Geburtstagsgeschenke, Weihnachtsgeschenke gebracht,
ihr jedes Jahr- >meine Sascha, wie groß du bist< - unters Kinn gegriffen
und unauffällig eine ihrer Rundungen betätschelt hätte, um anzudeuten,
>meine Sascha, bald bist du reif für den Topf<.
    »Wie geht's mit deiner Lektüre
vorwärts, Alexandra?« fragte er, während er das vor ihm liegende Notizbuch
glattstrich und nach der Liste blätterte. Das war Geplauder. Das war nicht das
Höhere Gesetz. Das war wie ein Gespräch über das Wetter, oder was für ein
hübsches Kleid sie trug, oder wie glücklich sie heute aussah, ganz und gar
nicht so wie letzte Woche.
    »Ich heiße Tatjana und komme vom
Mond«, antwortete sie. Onkel Anton tat, als habe sie nichts gesagt, sie hatte
also vielleicht nur zu sich selbst gesprochen, lautlos in Gedanken, wo sie
sich eine Menge Dinge erzählte.
    »Bist du mit der Novelle von
Turgenjew fertig, die ich dir gebracht hatte?« fragte er. »Du hast inzwischen
wohl die >Früh-lingsströme< gelesen, nehme ich an.«
    »Mutter Felicitas liest sie mir
vor, aber sie ist zur Zeit heiser«, sagte Alexandra.
    »So.«
    Das war eine Lüge. Sie hatte ihr
Essen auf den Boden geworfen, und um sie zu strafen, las Felicitas-Felicitas
ihr nicht mehr vor. Onkel Anton hatte in seinem Notizbuch die Seite mit der
Liste gefunden, und auch seinen Kugelschreiber hatte er gefunden, einen
Silberstift mit Gleitmine, auf den er ungemein stolz zu sein schien.
    »So«, sagte er. »Also dann,
Alexandra!«
    Plötzlich wollte Alexandra nicht
mehr auf seine Fragen antworten. Plötzlich war ihr das unmöglich. Sie
überlegte, ob sie ihm nicht die Hosen herunterziehen und ihn verknuspern
sollte. Sie überlegte, ob sie nicht wie die Französin in eine Ecke machen
sollte. Sie zeigte ihm die blutig gekauten Stellen an ihren Händen. Sie wollte
ihm durch ihr eigenes göttliches Blut zu verstehen geben, daß sie seine erste
Frage nicht hören wollte. Sie stand auf, hielt ihm eine Hand hin, während sie
die Zähne in die andere grub. Sie wollte Onkel Anton ein für allemal
klarmachen, daß die Frage, die er im Kopf hatte, obszön war, beleidigend, unannehmbar
und verrückt, und zu dieser Demonstration hatte sie das nächstliegende und
beste Beispiel gewählt, das Beispiel Christi: Hing Er nicht an Felicitas'
Wand, direkt vor ihr, und Blut lief an seinen Handgelenken herab? Ich hab'
das für dich vergossen, Onkel Anton ,

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