Carre, John le
Träumen
hingegeben zu sehen.
Dann fiel
ihm der Besuch ein, den er heute morgen bei Smiley gemacht hatte. So rückschauend,
fürchtete er sich ein ganz klein wenig vor Smiley. Und es fiel ihm das Kind an
der Tür ein. Ein Mann muß sich gegen Gefühle verhärten.
»Ihr Mann
hat hervorragende Arbeit geleistet«, sagte Leclerc. »Ich kann Ihnen keine
Einzelheiten verraten. Ich bin überzeugt, daß er sehr tapfer starb.« Ihr Mund
war verschmiert und häßlich. Leclerc hatte noch nie jemanden so sehr weinen
sehen; es war wie eine Wunde, die sich nicht schließen wollte. »Was meinen Sie
mit tapfer?« stammelte sie. »Wir sind nicht im Krieg. Damit ist Schluß, mit all
diesem hochtrabenden Gerede. Er ist tot«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in
ihrem angewinkelten Arm, der wie eine vergessene Puppe auf dem Eßtisch lag. Aus
einer Ecke starrte das Kind herüber. »Ich glaube«, sagte Leclerc, »Sie sind
einverstanden, wenn ich eine Pension beantrage. Sie können das alles uns
überlassen. Je früher wir uns damit befassen, desto besser.« Als wäre es die
Maxime seines Hauses, erklärte er: »Eine Pension vermag alles in ein anderes
Licht zu rücken.«
Der Konsul wartete neben dem
Beamten der Paßkontrolle. Er kam ihm ohne ein Lächeln entgegen. Er tat nur
seine Pflicht. »Sind Sie Avery?« fragte er. Avery gewann den Eindruck eines
großen, strengaussehenden Mannes mit gerötetem Gesicht, der einen Filzhut und
dunklen Mantel trug. Sie gaben sich die Hand. »Sie sind er britische Konsul,
Mr. Sutherland.«
»Konsul Ihrer Majestät,
genaugenommen«, entgegnete er etwas säuerlich. »Da gibt's einen Unterschied,
wissen Sie.« Er sprach mit schottischem Akzent. »Wieso wußten Sie, wie ich
heiße?« Sie gingen gemeinsam auf den Haupteingang zu. Es war alles sehr
einfach. Avery bemerkte ein Mädchen hinter dem Schalter, blond und sehr hübsch.
»Es ist nett von Ihnen, daß Sie den Weg heraus gemacht haben«, sagte Avery.
»Es sind nur fünf Kilometer von der Stadt.« Sie stiegen ins Auto.
»Er wurde weiter oben auf der
Straße getötet«, sagte Sutherland. »Wollen Sie die Stelle sehen?«
»Ja, das könnte ich machen. Um
meiner Mutter davon zu berichten.« Er trug eine schwarze Krawatte. »Sie heißen
wirklich Avery, nicht wahr?«
»Selbstverständlich; Sie haben
meinen Paß doch bei der Kontrolle gesehen.«
Sutherland
gefiel diese Bemerkung nicht, und Avery wünschte, sie nicht gemacht zu haben.
Der Konsul startete den Wagen. Als sie gerade in die Mitte der Fahrbahn
hinausziehen wollten, wurden sie von einem Citroen überholt.
»Verdammter
Idiot«, zischte Sutherland. »Die Straßen sind wie Eis. Ich nehme an, das ist
einer von diesen Piloten. Die haben kein Gefühl mehr für Geschwindigkeit.«
Während das Auto vor ihnen die lange, über die Dünen führende Straße
hinunterraste, wobei es hinter sich eine kleine Wolke aus Schnee aufwirbelte,
konnten sie die Umrisse einer Schirmmütze vor dem hellen Fleck der
Windschutzscheibe sehen. »Woher kommen Sie?« fragte er. »Aus London.«
Sutherland
wies geradeaus: »Dort ist Ihr Bruder gestorben. Dort oben auf dem Abhang. Die
Polizei glaubt, daß der Fahrer sehr voll gewesen sein muß. Hier sind sie sehr
scharf, wenn jemand im alkoholisierten Zustand fährt, wissen Sie.« Es klang
wie eine Warnung. Avery starrte auf das flache, schneebedeckte Land hinaus und
dachte an den Engländer Taylor, wie er einsam die Straße entlangtrottete und
seine schwachen Augen vor Kälte tränten.
»Nachher gehen wir zur Polizei«,
sagte Sutherland. »Man erwartet uns. Dort werden Sie alle Einzelheiten
erfahren. Haben Sie sich schon ein Zimmer hier besorgt?«
»Nein.«
Als sie die Höhe des Hügels
erreichten, sagte Sutherland mit widerwilliger Ehrfurcht: »Es war hier, falls
Sie aussteigen wollen.«
»Nicht nötig.«
Sutherland
beschleunigte etwas, als habe er es eilig, von der Stelle wegzukommen.
»Ihr Bruder war auf dem Weg zum
Hotel. Zum >Regina<, dort vorne. Es gab kein Taxi.« Als sie auf der anderen
Seite des Hügels hinunterfuhren, sah Avery die breite Lichterfront eines
Hotels. »Überhaupt keine Entfernung, wirklich nicht«, bemerkte Sutherland. »Er
hätte es in fünfzehn Minuten geschafft. Weniger. Wo wohnt Ihre Mutter?« Diese
Frage kam für Avery völlig unvorbereitet. »In Woodbridge, Suffolk.« Dort fand gerade
eine Nachwahl statt. Es war die erste Stadt, die ihm einfiel, obwohl er sich
nicht für Politik interessierte. »Warum hat er sie nicht
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