Carre, John le
Hongkong von heute sehr viel anders ist,
wenn man bloß ein bißchen am Firnis kratzte. Neben einigen dieser sogenannten
englischen Gentlemen wäre dieser berüchtigte Fabrikbesitzer von Lancashire ein
leuchtendes Beispiel christlicher Nächstenliebe geworden.« Nachdem er diesen
milden Vorwurf geäußert hatte, kehrte er zu Connie und seiner Erzählung zurück.
Connie war ihm vertraut: der Archetypus der Dame auf der vordersten Kirchenbank:
wuchtig, aufmerksam, mit Hut, und sie lauschte fromm einem jeden Wort des alten
Mannes.
»Sie kamen immer gegen fünf Uhr zum Tee, wissen Sie, die beiden Brüder.
Ich mußte alles bereit haben, das Essen auf dem Tisch, Limonade hatten sie
gern, nannten sie Soda. Drake kam von den Docks, Nelson von seinen Büchern, und
sie aßen fast schweigend, und dann ging's wieder an die Arbeit, nicht wahr,
Doris? Sie hatten irgendeinen legendären Helden ausgegraben, den gelehrten Che
Yin. Che Yin war so arm, daß er sich selber das Lesen und Schreiben beim Licht
der Leuchtkäfer beibringen mußte. Sie redeten gern darüber, wie Nelson ihm
nacheifern werde. >Los, Che Yin<, sagte ich immer. >Iß noch ein Brot,
damit du bei Kräften bleibst.« Dann lachten sie ein bißchen, und schon waren
sie wieder weg. >Bye-bye, Che Yin, weiter geht's.< Dann und wann, wenn er
nicht gerade den Mund zu voll hatte, traktierte Nelson mich mit seiner Politik. Meine Güte, der Junge
hatte vielleicht Ideen! Und von uns hat er sie nicht gelernt, das dürfen Sie mir
glauben, wir wußten nicht genug. Geld sei die Wurzel allen Übels. Nun, das will
ich nicht bestreiten! Habe es selber jahrelang gepredigt! Brüderlichkeit,
Kameradschaft, aber: Religion ist Opium fürs Volk, also, da kam ich nicht mehr
mit, aber Klerikalismus, Hochkirchenklimbim, Papistentum, Götzendienst - also,
damit hatte er so unrecht nicht, so wie ich es sah. Er hatte auch harte Worte
für uns Briten, und wir haben sie verdient, würde ich sagen.«
»Hat ihn nicht gehindert, bei uns zu essen, wie?« bemerkte Doris
wiederum in die Kulissen. »Oder seinen alten Glauben zu verleugnen. Oder die Mission kurz und klein zu
schlagen.« Aber der alte Mann lächelte nur geduldig. »Doris, mein Kind, ich
habe es dir schon oft gesagt und ich sage es dir nochmals: Die Wege des Herrn
sind unerforschlich. Solange gute Menschen bereit sind, hinzugehen und nach der
Wahrheit zu suchen und nach der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, wird er nicht
lange vor der Türe warten müssen.«
Doris senkte errötend den Kopf über ihr Strickzeug. »Natürlich hat sie
recht. Nelson hat tatsächlich die Mission zertrümmert. Und auch seinen Glauben verleugnet.« Eine
Wolke des Kummers hing sekundenlang über seinem alten Gesicht, bis das Lachen
plötzlich den Sieg davontrug. »Und du liebe Güte, hat Drake den Jungen ins
Gebet genommen! Hat der ihm vielleicht die Leviten gelesen! Ach Gott, ach Gott!
>Politik<, sagt Drake, >kannst du nicht essen, nicht verkaufen und,
mit Verlaub, Doris, du kannst nicht mit ihr schlafen! Alles was du mit ihr tun
kannst, ist die Tempel kaputtschlagen und die Unschuldigen töten !< Ich hab'
ihn noch nie so zornig gesehen. Und er hat Nelson eine Tracht Prügel verabreicht, jawohl! Drake hat einiges
gelernt, drunten in den Docks, das kann ich Ihnen sagen!«
»Und Sie müssen es uns sagen«, zischte di Salis wie eine Schlange ins
Dämmerlicht. »Sie müssen uns alles sagen. Es ist Ihre Pflicht.«
»Ein Studentenaufmarsch«, fuhr Mr. Hibbert fort. »Fackelzug nach der
Sperrstunde, Gruppen von Kommunisten draußen auf den Straßen, wollen Krawall
machen. Anfang neunundvierzig, muß im Frühling gewesen sein, die Lage fing
gerade an, brenzlig zu werden.« Im Gegensatz zu seiner früheren
Weitschweifigkeit war Mr. Hibberts Erzählstil überraschend bündig geworden:
»Wir saßen am Feuer, wie, Doris? Vierzehn war Doris damals, oder war's
fünfzehn? Wir hatten gern ein Feuer, auch wenn's nicht nötig war, erinnerte uns
an zu Hause, an Macclesfield. Und wir hören draußen den Klamauk und das Grölen.
Becken, Pfeifen, Gongs, Glocken, Trommeln, ein gräßlicher Krach. Ich hatte
schon eine Ahnung, daß so etwas passieren könnte. Nelson hat mich die ganze
Zeit in der Englischstunde gewarnt: »Sie gehen heim, Mr. Hibbert. Sie sind ein
guter Mensch«, sagte er, >Sie sind ein guter Mensch, aber wenn die Dämme
brechen, ertrinken die Guten und die Schlechten in den Fluten.< Er konnte
sich so hübsch ausdrücken, wenn er wollte, dieser Nelson. Kam von
Weitere Kostenlose Bücher