Carre, John le
für sie
gewünscht hätte. Er beobachtete sie und wußte, daß sie bei jedem Wortgefecht
immer der Verlierer war; sie fühlte sich dabei hoffnungslos unterlegen und
schickte sich in die Niederlage. »Zum Beispiel«, fuhr Jerry fort - während sie
besiegt den Kopf senkte -, »wenn bewiesen würde, daß Ihr Ric, wenn er seine Fässer losschlug, das Geld für
sich behielt und, anstatt es an die Brennerei abzuführen - reine Hypothese,
nicht der geringste Beweis -, dann, in diesem Fall . . . «
Sie unterbrach ihn: »Als unsere Partnerschaft endete, war jeder Anleger im Besitz eines beglaubigten
Vertrags mit Zinsen vom Tag des Kaufs an. Jeder Penny, den wir entnahmen, wurde
pünktlich beglichen.«
Bis jetzt war alles nur Anpirschen gewesen. Nun sah er sein Ziel
auftauchen, und er hielt stracks darauf zu. »Nicht pünktlich, altes Haus«,
berichtigte er, während sie unverwandt in den vollen Teller starrte. »Diese
Abrechnungen wurden ein halbes Jahr nach dem Fälligkeitsdatum erstellt. Unpünktlich. Das ist meiner Ansicht nach
ein sehr aufschlußreicher Punkt. Frage: wer hat Ric freigekauft? Soviel uns
bekannt ist, war so ziemlich alle Welt hinter ihm her. Die Brennerei, die
Gläubiger, das Gericht, die Gemeinde. Jeder hatte schon das Messer für ihn
gewetzt. Dann, eines schönen Tages: päng! Anklagen zurückgezogen, Schatten der Kerkerstäbe weichen. Wieso? Ric
war fix und fertig. Wer ist der rettende Engel? Wer hat seine Schulden
aufgekauft?«
Während er redete, hatte sie den Kopf gehoben, und zu seinem Erstaunen
erhellte plötzlich ein strahlendes Lächeln ihre Züge, und schon winkte sie über
seine Schulter hinweg jemandem zu, den er nicht sehen konnte, bis er in den
Deckenspiegel blickte und den Schimmer eines stratoblauen Anzugs sah und einen
Kopf voller gutgeölter schwarzer Haare; und zwischen beidem saß ein plattes
rundes Chinesengesicht auf mächtigen Schultern, und zwei verschlungene Hände
streckten sich im Ringergruß aus, während Lizzie ihn heranflötete:
»Mr. Tiu! Was für ein herrlicher Zufall. Das ist Mr. Tiu. Kommen Sie
rüber. Probieren Sie das Beef. Es ist großartig. Mr. Tiu, das ist Jerry von der Fleet Street. Jerry, Mr. Tiu ist ein
sehr guter Freund, der ein bißchen hilft, auf mich aufzupassen. Er macht ein
Interview mit mir, Mr. Tiu! Mit mir! Wahnsinnig aufregend. Alles über Vientiane
und einen armen Flieger, dem ich vor hundert Jahren einmal helfen wollte. Jerry
weiß alles über mich. Er ist ein Wunder!«
»Wir kennen uns bereits«, sagte Jerry und grinste breit. »Klar«, sagte
Tiu genauso begeistert, und als er das sagte, roch Jerry wiederum die vertraute
Duftmischung aus Mandeln und Rosenwasser, die seine einstige Frau so sehr
geliebt hatte. »Klar«, wiederholte Tiu. »Sie sind der Pferdeschreiber, okay?«
»Okay«, bestätigte Jerry und strapazierte sein Lächeln fast bis zum
Reißen.
Hiermit schlug natürlich Jerrys Weltbild mehrere Purzelbäume, und er
hatte nun eine ganze Menge Dinge zu beachten: zum Beispiel mußte er den
Eindruck erwecken, über den ausgesprochen glücklichen Zufall von Tius
Auftauchen ebenso entzückt zu sein wie alle anderen; Händedrücke tauschen, die
einem gegenseitigen Versprechen künftigen Einvernehmens glichen; einen Stuhl
heranziehen und Drinks bestellen, Beef, Eßstäbchen und alles übrige. Aber was
ihn während aller dieser Verrichtungen wirklich beschäftigte - was in seinem
Gedächtnis so ausdauernd haften blieb wie die späteren Ereignisse es irgend
erlaubten -, hatte wenig mit Tiu oder dessen eiligem Erscheinen zu tun. Es war
Lizzies Gesichtsausdruck, als sie den eintretenden Tiu erblickte, den Bruchteil
einer Sekunde, ehe das Zusammenraffen allen Muts ihr das fröhliche Lächeln
entrang. Er erklärte ihm besser als irgend etwas anderes die unvereinbaren
Widersprüche, aus denen Lizzie zusammengesetzt war: ihre Gefangenenträume, ihre
entliehenen Persönlichkeiten, die wie Verkleidungen waren, in denen sie für
kurze Zeit ihrem Schicksal entrinnen konnte. Natürlich hatte sie Tiu
herbeigerufen: sie hatte keine Wahl. Er wunderte sich, wieso weder der Circus
noch er selber das vorhergesehen hatten. Die Ricardo-Story, ob wahr oder nicht,
war viel zu heiß, als daß das Mädchen alleine damit fertig werden konnte. Aber
der Ausdruck der grauen Augen, als Tiu das Restaurant betrat, zeigte nicht
Erleichterung, sondern Resignation: wiedereinmal waren die Türen hinter ihr
zugefallen, war der Spaß vorbei. »Wir sind wie diese verdammten
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