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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eine Art Held (Smiley Bd 6)
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eine
Dreißig-Cent-Fahrt mit dem Einheitspreis-Stadtbus entfernt, in der angeblich
volkreichsten Ecke unseres Planeten, am North Point, dort, wo die Stadt zum
Peak ansteigt, im sechzehnten Stock eines Hochhausblocks genannt 7A, lag Jerry
Westerby nach einem kurzen, aber traumlosen Schlaf auf einer Matratze, sang
seinen eigenen Text zur Melodie von »Miami Sunrise« und sah einem schönen
Mädchen beim Auskleiden zu. Die Matratze war über zwei Meter lang und dafür
gedacht, in der Querrichtung einer ganzen chinesischen Familie als Lager zu
dienen, und so ungefähr zum erstenmal in Jerrys Leben hingen seine Füße nicht
über den unteren Rand. Die Matratze war um eine Meile länger als Pets
Gästebett, länger sogar als das Bett in der Toskana, obwohl es in der Toskana
keine Rolle spielte, denn dort hatte er ein wirkliches Mädchen zum
Entlangkringeln, und mit einem Mädchen liegt man ohnehin nicht so gerade.
Wohingegen das Mädchen, dem er zusah, hinter einem Fenster stand, dem seinigen
gegenüber, zehn Meter oder Meilen außerhalb seiner Reichweite; und an jedem der
neun Tage, an denen er hier erwacht war, hatte sie sich dort entkleidet und
gewaschen, was ihn zu beträchtlicher Begeisterung hinriß, sogar zu Applaus.
Wenn er Glück hatte, konnte er die ganze Zeremonie verfolgen, von dem
Augenblick an, da sie den Kopf zur Seite legte, um das schwarze Haar lose bis
zur Taille fallen zu lassen, bis zum Finale, wenn sie sich keusch in ein Laken
wickelte und zurück zu ihrer zehnköpfigen Familie in den angrenzenden Raum
ging, wo sie alle lebten. Er kannte die Familie aufs Innigste; ihre
Waschgewohnheiten, ihren Geschmack in puncto Musik, Küche und Liebe, ihre
Feiern und ihre jäh aufflammenden gefährlichen Zwistigkeiten. Nur über eines
war er sich nicht klar: ob sie ein Mädchen
war oder zwei. Sie verschwand, aber er sang weiter. Er verspürte Ungeduld, so
fing es bei ihm jedesmal an, ob er eine finstere Hintergasse in Prag
entlangschlich, um mit einem angstbibbernden Burschen kleine Päckchen zu
tauschen oder - Höhepunkt seines Daseins und für einen »Gelegentlichen« etwas
nie Dagewesenes - drei Meilen in einem kleinen schwarzbemalten Boot ruderte, um
an einer Uferstelle des Kaspischen Meers einen Funker abzuholen. Als der
kritische Moment nahte, entdeckte Jerry die gleiche überraschende
Selbstbeherrschung, die gleiche Fröhlichkeit und die gleiche Wachheit. Und den
gleichen Bammel, was nicht unbedingt ein Widerspruch ist. Heute ist es soweit,
dachte er. Heute wird's ernst. Es waren drei winzige Räume, und in allen dreien
lag Parkett. Das stellte er allmorgendlich als erstes fest, denn es gab
keinerlei Mobiliar, ausgenommen die Matratze und den Küchenstuhl und den Tisch
mit seiner Schreibmaschine, dem einzigen Teller, der als Aschenbecher diente,
und dem Häschen-Kalender Jahrgang 1960 mit einem Rotschopf darauf, dessen Reize
inzwischen längst ihre Blüte hinter sich hatten. Er kannte den Typus genau:
grüne Augen, heißes Blut und eine Haut, die so empfindlich war, daß sie wie ein
Schlachtfeld aussah, wenn man nur einen Finger darauflegte. Ferner ein Telefon,
einen uralten Plattenspieler nur für Achtundsiebziger und zwei richtiggehende
Opiumpfeifen, die an höchst nüchternen Nägeln von der Wand baumelten: dies war
das komplette Inventar der Besitztümer und Interessen von Deathwish dem Hunnen,
zur Zeit in Kambodscha, von dem Jerry die Wohnung gemietet hatte. Und dann war
der Büchersack, sein eigener, neben der Matratze.
    Der
Plattenspieler war abgelaufen. Jerry rappelte sich vergnügt auf die Füße und
schlang den improvisierten Sarong um den Magen. In diesem Augenblick klingelte
das Telefon, also setzte er sich wieder, grabschte nach der Telefonschnur und
zog den Apparat über den Fußboden zu sich heran. Es war wieder Luke, der wie
gewöhnlich ein Spielchen machen wollte. »Tut mir leid, altes Haus. Bin an einer
Story. Versuch's mit Solo-Whist.«
    Jerry
wählte die Zeitansage, hörte ein chinesisches Quäken, dann ein englisches
Quäken und richtete seine Armbanduhr auf die Sekunde genau. Dann ging er zum
Plattenspieler und ließ wiederum »Miami Sunrise« laufen, so laut es ging. Es
war seine einzige Platte, aber sie übertönte das Gegurgel der nutzlosen Klimaanlage.
Vor sich hinsummend, öffnete er den einzigen Schrank und nahm aus einer alten
ledernen Reisetasche das vergilbte Tennisrackett seines Vaters, Jahrgang
neunzehnhundertdreißig, die Initialen S. W. mit Wäschetinte am Griff

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