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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eine Art Held (Smiley Bd 6)
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las: von Tallin nach
Peking, mit Daten, von Peking nach Schanghai, wieder die Daten, nach Hongkong
neunundvierzig, um hierzu sterben. »Und Güter in Swerdlowsk«, schloß die
Inschrift trotzig. War Schanghai die Verbindung? Er gesellte sich wieder zu den
Lebenden: drei alte Männer in Pyjamas saßen schweigend auf einer Bank im
Schatten. Sie hatten ihre Vogelkäfige über sich in die Zweige gehängt, nahe
genug, daß sie einander über das Lärmen des Verkehrs und der Zikaden singen
hören konnten. Zwei Totengräber mit Stahlhelmen schütteten ein frisches Grab
zu. Keine Trauergäste standen dabei. Als er an den Stufen der Kapelle anlangte,
wußte er noch immer nicht, was er eigentlich wollte. Er lugte durch die Tür.
Drinnen war es nach der Sonnenhelle stockdunkel. Eine alte Frau starrte ihn an.
Er zog sich zurück. Der Schäferhund heulte noch lauter. Er war sehr jung. Ein
Hinweisschild besagte »Friedhofswärter«. Jerry folgte ihm. Das Schrillen der
Zikaden war ohrenbetäubend, es übertönte sogar das Hundegebell. Der Blumenduft
war feucht und ein bißchen modrig. Jerry war eine Idee gekommen., fast eine
Ahnung. Er war entschlossen, ihr zu folgen. Der Friedhofswärter war ein
freundlicher zurückhaltender Mann und sprach nicht englisch. Die Totenbücher
waren sehr alt, die Eintragungen glichen denen in alten Kontobüchern. Jerry
setzte sich an einen Holztisch und wandte langsam die schweren Seiten um, las
die Namen und Geburtstage, die Daten des Todes und der Beerdigung; zuletzt die
Lage der Gräber: die Sektion und die Nummer. Nachdem er gefunden hatte, was er
suchte, trat er wieder hinaus ins Freie und schritt nun einen anderen Pfad
entlang, durch eine Wolke von Schmetterlingen hügelan nach den Klippen zu. Von
einem Steg aus beobachtete ihn eine Gruppe kichernder Schulmädchen. Er zog die
Jacke aus und hängte sie über die Achsel. Er ging zwischen hohem Gestrüpp
hindurch und betrat eine abschüssige Wildnis gelber Gräser, wo die Grabsteine
sehr klein waren, die Hügel nur einen oder zwei Fuß lang. Während er sich
zwischen ihnen durchschlängelte, las er die Nummern, bis er vor einem niedrigen
Eisengitter stand, das die Nummer sieben zwei acht trug. Es umfriedete ein
rechteckiges Areal, und als Jerry den Blick hob, sah er die Statue eines
kleinen Jungen vor sich, in viktorianischen Kniehosen und einem Eton-Jackett,
in Lebensgröße, mit zerzausten steinernen Locken und knospenden steinernen
Lippen, aus einem aufgeschlagenen steinernen Buch lesend oder absingend,
während lebendige Schmetterlinge wie trunken um seinen Kopf flatterten. Der
Junge war ein durch und durch englisches Kind, und die Inschrift lautete Nelson Ko in liebendem Angedenken. Eine Menge Zahlen folgten, und
Jerry brauchte eine Weile, ehe er ihre Bedeutung begriff: zehn
aufeinanderfolgende Jahre, keines ausgelassen, und das letzte war 1968. Dann
war ihm klar, daß dies die zehn Lebensjahre des Jungen waren, deren jedes
einzeln gewürdigt werden sollte. Auf der untersten Stufe des Sockels lag ein
großer Orchideenstrauß, noch im Papier.
    Ko dankte
Nelson für seinen Sieg. Jetzt verstand Jerry wenigstens, warum er nicht mit
Fragen nach seinem Glück belästigt werden wollte.
    Es gibt
eine Art gelegentlich auftretender Ermüdung, die nur Außenagenten kennen: eine
Versuchung zur Milde, die der Kuß des Todes sein kann. Jerry verharrte noch
eine Weile, betrachtete die Orchideen und den steinernen Jungen und fügte sie
im Geist all dem hinzu, was er bisher von Ko gesehen und über ihn erfahren
hatte. Und er hatte ein überwältigendes Gefühl - nur eine Sekunde lang, aber es
ist allemal gefährlich - der Erfüllung  als wäre er einer Familie begegnet, nur
um zu entdecken, daß es seine eigene war. Er hatte ein Gefühl, angelangt zu
sein. Hier war ein Mann, der dieses Haus besaß, mit jener Frau verheiratet war,
strebte und spielte auf eine Art, die Jerry mühelos verstand. Kein besonders
einprägsamer Mann, und doch sah Jerry ihn in diesem Augenblick deutlicher, als
er sich selber je gesehen hatte. Ein armer Chiu-Chow-Junge, der Steward eines
Jockey Clubs wird und Träger des O.B.E. und vor einem Rennen sein Pferd mit dem
Schlauch abspritzt. Ein Hakka-Wasserzigeuner, der seinem Kind ein baptistisches
Begräbnis und ein englisches Standbild gibt. Ein Kapitalist, der Politik haßt.
Ein gescheiterter Jurist; Bandenboß, Erbauer von Krankenhäusern, der Opiumflüge
befehligt, Stifter von Geistertempeln, der Krocket spielt und in

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