Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)
während der Fastenzeit halten. Die Komplet war der letzte der
kanonischen Tagesgottesdienste und wurde vor dem Zubettgehen gehalten. Der
Direktor, der vor dieser Art von Traditionen einen großen Respekt hat, führte
die alten Worte für unsere Andachtsübungen wieder ein. Die Prim war die
Frühandacht, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Terz war zur dritten Stunde nach
Tagesanbruch - das heißt, neun Uhr morgens. Derart nennen wir es nicht mehr
Morgenandacht, sondern Terz. Ich finde das reizvoll. Desgleichen halten wir während
Advent und Fastenzeit mittags Sext in der Abtei.«
»Sind alle
diese Andachten Pflicht?«
»Natürlich.
Sonst wäre es ja notwendig, für diejenigen Jungen Vorkehrungen zu treffen, die
nicht teilnehmen. Das ist nicht erwünscht. Außerdem, Sie vergessen, daß Carne
eine religiöse Stiftung ist.«
Es war
eine schöne Nacht. Als sie den Platz überquerten, sah Smiley zum Turm hinauf.
Er schien im Mondlicht kleiner und friedlicher. Das Weiß des Neuschnees
erhellte selbst den Himmel; die ganze Abtei hob sich so scharf dagegen ab, daß
sogar die verstümmelten Statuen der Heiligen in jeder traurigen Einzelheit
ihrer Entstellung klar hervortraten, armselige Gestalten, ihrer Wirkung
beraubt, ohne Augen, die sich verändernde Welt zu sehen.
Sie
erreichten die Kreuzung südlich der Abtei.
»Hier
trennen sich leider unsere Wege«, sagte D'Arcy, die Hand ausstreckend.
»Es ist
eine wunderbare Nacht«, erwiderte Smiley rasch, »lassen Sie mich bis zu Ihrem
Haus mitkommen.«
»Gern«,
erwiderte D'Arcy trocken.
Sie gingen
die North-Fields-Allee hinunter. Eine hohe Steinmauer lief an einer Seite
entlang; auf der anderen begrenzte die große Fläche der Sportplätze, zwanzig
oder mehr Rugby-Felder, die Straße auf mehr als achthundert Meter. Sie gingen
dieses Stück schweigend, bis D'Arcy anhielt und mit seinem Stock an Smiley
vorbei auf ein kleines Haus am Rande der Sportplätze deutete.
»Das ist
North Fields, das Haus der Rodes. Es gehörte früher dem Platzaufseher, aber die
Schule ließ vor einigen Jahren einen Flügel anbauen, und jetzt dient es als
Lehrerhaus. Mein eigenes Haus ist bedeutend größer und liegt weiter oben an
der Straße. Glücklicherweise gehe ich gern zu Fuß.«
»Haben Sie
in jener Nacht Stanley Rode hier in der Nähe gefunden?«
Nach einer
Pause erwiderte D'Arcy: »Es war näher bei meinem Hause, ungefähr vierhundert
Meter weiter. Er war in einem schrecklichen Zustand, der arme Kerl,
schrecklich. Ich kann selbst den Anblick von Blut nicht ertragen. Hätte ich
gewußt, wie er aussehen würde, als ich ihn ins Haus brachte, ich glaube nicht,
daß ich's gekonnt hätte. Gott sei Dank ist meine Schwester Dorothy eine sehr
tüchtige Frau.«
Schweigend
gingen sie weiter, bis Smiley sagte: »Aus Ihren Äußerungen bei Tisch ging
hervor, daß die Rodes sehr schlecht zueinanderpaßten.«
»Genau.
Wenn sie auf andere Weise umgekommen wäre, so würde ich es als eine Fügung des
Schicksals bezeichnen: eine segensvolle Befreiung für Rode. Sie war eine durch
und durch boshafte Frau, Smiley, die darauf aus war, ihren Mann der
Lächerlichkeit preiszugeben. Ich glaube, es war Absicht. Andere glauben es
nicht. Ich aber schon, und ich habe meine Gründe. Sie fand ein Vergnügen daran,
ihren Mann zu verhöhnen.«
»Und auch
Carne, ohne Zweifel.«
»Genau
das. Dies ist ein kritischer Augenblick in Carnes Entwicklung. Viele
Internatsschulen haben dem vulgären Geschrei nach Veränderung nachgegeben -
Veränderungen um jeden Preis. Ich freue mich, feststellen zu können, daß Carne
sich diesen Selbstmördern nicht angeschlossen hat. Deshalb ist es jetzt um so
wichtiger, daß wir uns von innen wie von außen schützen.« Er sprach mit
überraschender Heftigkeit.
»Aber war
Stella Rode wirklich so schwierig? Sicher hätte doch ihr Mann mit ihr sprechen
können.«
»Ich habe
ihn nie ermutigt, es zu tun, das versichere ich Ihnen. Es ist nicht meine Art,
mich in Eheprobleme einzumischen.«
Sie
erreichten D'Arcys Haus. Eine hohe Lorbeerhecke schloß es völlig von der
Straße ab, nur zwei Karninkasten waren darüber sichtbar und bestätigten Smileys
Eindruck, daß das Haus groß war und aus der viktorianischen Zeit stammte.
»Ich
schäme mich viktorianischen Geschmacks nicht«, sagte D'Arcy und öffnete langsam
das Gartentor; »aber wir sind ja auch, fürchte ich, hier in Carne mit der
modernen Sprechweise nicht vertraut. Das Haus war einmal das Pfarrhaus der
North-Fields-Kirche, aber der
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