Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)
die
Auffahrt betrat, wo er vor zwei Nächten seine merkwürdige Unterhaltung mit Jane
Lyn gehabt hatte, gestand er sich ein, daß er völlig gewissenlos handelte, wenn
er Rode zu einer solchen Zeit unter irgendeinem Vorwand besuchte. Es war eine
Besonderheit von Smileys Charakter, daß er es während seiner ganzen
Geheimdienstarbeit niemals fertiggebracht hatte, die Mittel mit dem Zweck in
Einklang zu bringen. Als strenger Kritiker seiner eigenen Motive hatte er nach
langer Beobachtung herausgefunden, daß er sich weniger oft vom Intellekt leiten
ließ, als seine Gewohnheiten und Neigungen andeuten mochten; einmal war er im
Krieg von seinem Vorgesetzten als ein Mann beschrieben worden, der die List
Satans mit dem Gewissen einer Jungfrau vereinigt, und das schien ihm nicht ganz
ungerecht.
Er drückte
auf den Klingelknopf und wartete.
Stanley
Rode öffnete die Tür. Er war sehr sauber angezogen, wirkte sehr gepflegt.
»Oh,
hallo«, sagte er, als seien sie alte Freunde. »Sagen Sie, Sie haben nicht etwa
einen Wagen?«
»Ich habe
ihn leider in London gelassen.«
»Nicht so
wichtig.« Rode schien enttäuscht. »Dachte, wir hätten vielleicht eine Fahrt
unternehmen und uns unterwegs unterhalten können. Ich kriege es langsam satt,
hier allein herumzumurksen. Miss D'Arcy hat mich gebeten, bei ihnen zu wohnen.
Sehr nette Leute, sehr nett, aber irgendwie wollte ich's nicht, noch nicht.«
»Ich
verstehe das.«
»Wirklich?«
Sie waren jetzt in der Halle. Smiley zog seinen Mantel aus, Rode wartete
darauf, ihn in Empfang zu nehmen. »Ich glaube, viele verstehen es nicht - die
Einsamkeit, meine ich. Wissen Sie, was sie gemacht haben, der Direktor und
D'Arcy? Sie haben es gut gemeint, ich weiß. Sie haben alle meine Korrekturen
weitervergeben - meine Examenskorrekturen. Was glaubt man wohl, was ich hier
allein machen soll? Ich habe keinen Unterricht, nichts; sie sind alle eingesprungen.
Man könnte glauben, sie wollen mich loswerden.«
Smiley
nickte vage. Sie gingen zum Wohnzimmer, Rode voran.
»Ich weiß,
sie meinten es gut, wie ich schon sagte. Aber schließlich muß ich ja die Zeit
irgendwie hinbringen. Simon Snow hat einiges von meinen Aufgaben zum
Korrigieren bekommen. Haben Sie ihn vielleicht zufällig getroffen?
Einundsechzig Prozent hat er einem Jungen gegeben - einundsechzig! Der Junge
ist ein völliger Dummkopf; ich sagte Fielding am Semesterbeginn, daß er
unmöglich versetzt werden könne. Perkins ist sein Name, ein ganz netter Junge,
Präfekt in Fieldings Haus. Dreißig Prozent wären schon viel für ihn...
einundsechzig Prozent gab ihm Snow. Ich habe die Prüfungsarbeiten natürlich
noch nicht gesehen, aber es ist unmöglich, ganz unmöglich.«
Sie
setzten sich.
»Nicht,
daß ich etwas gegen das Weiterkommen des Jungen hätte. Er ist ein ganz netter
Junge, nichts Besonderes, aber gute Manieren. Mrs. Rode und ich wollten ihn
dieses Semester mal zum Tee einladen. Wir hätten es auch getan, wenn nicht...«
Einen
Augenblick herrschte Stille. Smiley wollte sprechen, aber Rode stand auf und
sagte:
»Ich habe
einen Kessel auf dem Herd, Mr - «
»Smiley.«
»Ich habe
einen Kessel auf dem Herd, Mr. Smiley. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee
machen?« Diese schwache, starre Stimme mit den sorgfältig gezeichneten Kanten,
wie ein geliehener Cutaway, dachte Smiley.
Rode kam
nach ein paar Minuten mit einem Tablett zurück und maß den Kaffee nach ihrem
persönlichen Geschmack in genauen Mengen zu.
Smiley war
ständig irritiert von Rodes gesellschaftlichem Getue und seinem dauernden
Bemühen, seine Herkunft zu verbergen. Die ganze Zeit konnte man, aus jedem Wort
und jeder Geste, bestimmen, was er war; aus dem Abwinkeln seines Ellbogens beim
Kaffeetrinken, aus dem raschen, fachmännischen Zupfen am Knie seiner Hose beim
Hinsetzen.
»Dürfte
ich jetzt vielleicht...«, begann Smiley.
»Schießen
Sie los, Mr. Smiley.«
»Wir sind
natürlich besonders an Mrs. Rodes Beziehung zu unserer Kirche interessiert.«
»Gewiß.«
»Sie sind
in Branxome getraut worden, nehme ich an.«
»Branxome
Berg-Bethaus; schöne Kirche.« D'Arcy hätte die Art, wie er das sagte, nicht gemocht;
selbstsicherer Bursche auf einem Motorrad, Bleistifte in der Außentasche.
»Wann war
das?«
»September
einundfünfzig.«
»Hat sich
Mrs. Rode in Branxome karitativ betätigt? Ich weiß, sie war hier sehr aktiv.«
»Nein,
nicht in Branxome, aber hier sehr viel. Sie mußte in Branxome ihren Vater
versorgen, wissen Sie. Hier befaßte sie sich
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