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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sie erstaunt an. »Das hättest du mir nicht zugetraut, oder?« Paul lachte. In der Tat nicht. Anne bei Mahnwachen und Sitzblockaden? Anne in einer gelben Regenjacke, mit einem Palästinensertuch um den Hals und Kerzen in der Hand? »Mein Ding war das nicht«, sagte er. »Diese organisierte Massenhysterie.«
    Aber was war schon sein Ding gewesen, damals? Plötzlich sah er Anne vor sich: vierzehn, fünfzehn Jahre jünger. Weicher. Ohne die Härte in der Stimme. Ohne die Unnachgiebigkeit gegen sich selbst. Nicht so verdammt desillusioniert. Unverletzt. Jünger und idealistischer, als er jemals gewesen war.
    »Du hast ja recht: heute ist das kaum noch nachvollziehbar. Wie alle damals den Dritten Weltkrieg kommen sahen. Die große Blockkonfrontation. Ost gegen West. Und Deutschland als Aufmarschgebiet.«
    »Alle? Ich habe damals um den Werbeetat einer großen Zigarettenmarke gekämpft. Das war mein Fronterlebnis!« Er war, während Anne die Welt zu retten glaubte, auf dem besten Weg zum Zyniker gewesen.
    »Ich fand Mutlangen großartig«, sagte Anne mit leichtem Trotz in der Stimme. Sie hatte das Gefühl, daß Paul sie nicht ganz ernst nahm. »Und am großartigsten war Petra Kelly – erinnerst du dich? Wie sie sich vor dem Staatsratsgebäude in Ostberlin angekettet hat, auf der Brust die Parole der Friedensbewegung der DDR: ›Schwerter zu Pflugscharen?‹«
    Paul erinnerte sich gut. Medienpolitisch (werbestrategisch, um genau zu sein) war die Aktion einfach brillant gewesen: Die Bilder gingen um die Welt. So etwas wirkte besser als jedes Argument.
    »Die DDR hat zwar die westdeutsche Friedensbewegung unterstützt, aber die eigene Friedensbewegung unterdrückt. Frieden aber kann man nicht nur von der einen Seite fordern – man muß ihn auch der anderen Seite abverlangen.« Anne klopfte ihrem Pferd geistesabwesend auf den Hintern. Diese Kompromißlosigkeit hatte sie damals für die Sache gewonnen.
    »Ich habe der Initiative ›Frieden und Menschenrechte‹ in Ostberlin zugearbeitet. Habe Pamphlete, Bücher, Papiere geschmuggelt. Illegale Radiosendungen organisieren geholfen. Kontakte gemacht, Spenden gesammelt. Die westdeutschen Medien informiert.« Es war, dachte sie oft, die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. In Kiel, trotz – oder vielleicht wegen? – des permanenten Flügelstreits in ihrer Partei. Und in Westberlin, wo sie in einer Wohngemeinschaft übernachtete, wenn man Aktionen mit den Ostberlinern plante.
    Paul bewunderte ihren Mut. Ganz ungefährlich konnte das nicht gewesen sein. »Ich habe meiner Mutter die Päckchen nach drüben zum Postamt gebracht«, sagte er selbstironisch. »Mit dem guten Bohnenkaffee. Und der Seife mit den zwei Buchstaben.«
    »Es gibt doch nüscht!« hatte seine Großmutter immer gesagt, die einmal im Jahr aus der »Zone« zu Besuch in den »Westen« kam. Und »Geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht paßt!« hatte sein Vater gebrüllt, wenn der Sohn aufzumucken wagte. Für Paul war die DDR ein unwirklicher Ort gewesen, ein Land voll schlechter Laune und mit einer bemerkenswerten Unterproduktion von Rasiercreme und Jeans.
    Anne sah ihn ernst an. »Ich zweifle manchmal an unserem damaligen Mut. Rena war gerade vier Jahre alt – bei Freunden in Kiel untergebracht, wenn ich unterwegs war. Ich habe keinen Gedanken darauf verschwendet, was aus dem Kind geworden wäre, wenn man mich erwischt und eingebuchtet hätte.« Sie schüttelte sich. »Wir Westdeutschen haben uns überhaupt nicht klargemacht, wie riskant das war, eine Diktatur zum Abenteuerspielplatz zu machen. Und wie leicht wir unsere ostdeutschen Freunde gefährden konnten. Wir hatten Spaß. Und konnten uns auch noch einbilden, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen.«
    In der Ostberliner Dissidentenszene organisierte man seine konspirativen Treffen nach Art einer ununterbrochenen Party – jede Woche traf man sich in einer anderen Privatwohnung. Bei Frank Mathes ging es am engsten, aber meist am fröhlichsten zu. Er wohnte in einer Neubauwohnung mit DDR-spezifischem Heizungssystem: Es war immer zu heiß, weil sich die Wärme nicht drosseln ließ, weshalb auch im Winter mindestens ein Fenster stets weit offen stand.
    »Auf einer dieser zahllosen Parties bei Frank Mathes habe ich später Leo kennengelernt. Auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die Friedens- und Umweltbewegung. Die Prominenz war schon ausgewiesen, andere saßen im Knast.« Anne erinnerte sich genau an diesen Abend: an die trotzige, von Galgenhumor

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