Caruso singt nicht mehr
geprägte Stimmung. »Wir tranken Radeberger, rauchten mitgebrachte Westzigaretten, redeten über Thomas Mann, das neueste Buch von Wolfgang Hilbig oder Christa Wolf oder Christoph Hein und spekulierten, wer als nächster das Land würde verlassen müssen. Irgend jemand las aus den eigenen Werken vor. Später am Abend griff Leo zur Gitarre und sang. Er sang«, sagte sie mit plötzlicher Bitterkeit in der Stimme, »nicht schlecht.« Frauen, dachte sie, haben sich immer schon in Barden, Troubadoure und in Liedermacher verliebt. Oder in Boy-Groups. Das mußte eine angeborene Schwäche sein.
Paul sagte nichts. Er hatte Sibylle bei einer Vernissage kennengelernt. Und gesungen hatte nur einer: der Künstler selbst. Als der Sekt schon lange alle war und irgend jemand begonnen hatte, Whisky auszuschenken.
»Leo war das Klischee eines Ostberliner Dissidenten«, sagte Anne. »Die Haare lang, ausgefranster Vollbart, rotkariertes Hemd, Jesuslatschen.« Sie sah zu Paul hinüber, dessen Gesichtsausdruck erkennen ließ, daß ihm solche Leute und diese Szene gründlich fremd waren. Er hätte das wahrscheinlich nie verstanden: daß sie Leo trotz seiner Verkleidung umwerfend fand. Humorvoll und witzig und ungeheuer gut aussehend. Und daß sie sich, während sie sich stundenlang über den Sozialismus unterhielten, über das Ideal, nicht die Realität – und darüber, daß man Marx wieder völlig neu lesen müsse –, und über den »dritten Weg« und über die Frauenbewegung – im Grunde nur eines mitgeteilt hatten: »Ich will mit dir ins Bett.«
Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich losgerissen – sie mußte vor Mitternacht die Hauptstadt der DDR in Richtung Westberlin wieder verlassen haben. Leo hatte sie begleitet. Fast eine Stunde lang waren sie in der kühlen Frühlingsluft durch das spärlich beleuchtete Ostberlin gelaufen.
»Vor allem hörte er zu«, sagte Anne und seufzte und zupfte sich zwei Strohhalme vom Hosenbein. »Er hörte sehr gut zu. Er war der allerbeste Zuhörer, den ich je gekannt habe.«
Beinahe hätte Paul laut gelacht. Das hatte Sibylle auch gesagt, über ihn. Zu Anfang ihrer Beziehung, als sie ihn noch für ein sensibles und lernfähiges Exemplar seiner Gattung gehalten hatte. »Das ist alles Technik, Anne«, hätte er ihr am liebsten gesagt. »Den Frauen in die Augen sehen, ab und an nicken, an dramatischen Stellen ihre Hand ergreifen. Und insgeheim an die neue Kollegin, die Bürointrige und den eigenen Etat denken.« Frauen wollten, daß man sie reden ließ. Mehr nicht. Und Gott sei Dank redete endlich auch Anne.
»Ich bin schon am nächsten Wochenende wieder nach Ostberlin gefahren. So fing das an, meine Geschichte mit Leo«, sagte Anne leise. Sie sah Bremer nicht an. Er würde das nie begreifen, glaubte sie fest, was sie so verzaubert hatte in den ersten Monaten mit Leo Matern.
Voller Unruhe hatte sie sich damals, am Samstagmorgen um fünf Uhr, in ihren verrosteten R 4 gesetzt, mit dem es kein Kunststück war, die von der Vopo streng überwachte Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Transitautobahn nach Westberlin einzuhalten. Leo wollte sie am Bahnhof Friedrichstraße abholen, durch den sie sich als »BRD«-Bürgerin bei jedem ihrer Besuche quälen mußte. Er wartete schon, als sie endlich aus dem stickigen Bahnhof heraus war. Sie hatte es geschafft, die kleinen Machtdemonstrationen der Grenzbeamten über sich ergehen zu lassen, ohne Widerworte zu geben: Man mußte die Brille absetzen und die Haare hinters Ohr streichen, damit die Ohrläppchen sichtbar waren, sich lange und intensiv mustern und auf das Verfallsdatum des Ausweises hinweisen lassen.
Und dann waren sie mit seinem Auto durch die Stadt gefahren, durch das heruntergekommene Ostberlin, das in der Frühjahrssonne stündlich schöner wurde. Sie hatten die Fenster von Leos »Rennpappe«, wie er seinen bronchitischen Trabant nannte, weit geöffnet, und Anne genoß lachend die harte Federung, die jede der unzähligen Unebenheiten der schlecht geflickten und manchmal sogar noch kopfsteingepflasterten Straßen auf die Wageninsassen übertrug. Hatte Leo ihr übelgenommen, daß sie die Unvollkommenheiten seines Fortbewegungsmittels genoß, wie ein Kind den Bollerwagen? Sein Gesicht hatte nichts verraten. Oder hatte sie doch einen verächtlichen Blick gesehen, als sie lachend bemerkte: »Und dafür habt ihr jahrelang Schlange gestanden?«
»Jemals mit einem Trabi gefahren, Paul?« sagte sie verträumt. Paul grinste zurück. »Bei mir passierte
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