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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sie wild auf. Sie war mit der großen Gans zusammengestoßen, die rechts neben der Wildschweinkeule am Haken hing, die feuchtkalte, gummiartige Haut des Tierkadavers fühlte sich gespenstisch an. Der Zusammenstoß hatte die Gänseleiche ins Schwingen gebracht. Anne starrte gebannt auf das große, fleckige, stoppelige Ding, das träge hin- und herschwankte, wobei der Fleischerhaken leise über die Stange schabte.
    Die Veganer! schoß es ihr durch den Kopf. Sie war von den Veganern eingesperrt worden! Militante Veganer hatten kürzlich den Laden des einzigen Biometzgers von Pfaffenheim demoliert – und auch noch mit Buttersäure verpestet, dachte Anne angeekelt. Im in allen Zeitungen veröffentlichten Bekennerbrief hieß es sinngemäß, die seien ja wohl die schlimmsten, die nicht nur Fleisch, sondern auch noch das von glücklichen Tieren verkauften. In diese Kategorie paßten auch Anne und der Weiherhof. Anne schüttelte sich. In diesem Moment, allein mit so vielen toten Tieren, konnte sie plötzlich die Abneigung vieler Menschen gegen Fleisch verstehen.
    Die am Haken mit einem leisen »Schrääk« pendelnde Gans hing genau da, oder jedenfalls fast an derselben Stelle, an der vor nicht ganz einer Woche Leos Leiche gehangen hatte. Ein absurder Gedanke stieg in ihr hoch. War das hier ihre Totenwache für Leo?
     
    Anne hockte sich wieder auf den Boden, die Arme um den Oberkörper gelegt. Leo, dachte sie. Leo. So viel Glück. Und so viel bodenloses Unglück.
    Das erste Jahr mit Leo in Kiel war, dachte sie damals, das schönste ihres Lebens. Leo paßte sich der neuen Situation mit der Geschmeidigkeit einer Katze an. Nichts erinnerte mehr an den Ostberliner Dissidenten mit den langen Haaren, dem Bart und den Sandalen. Noch nicht einmal mehr sein Geruch, den sie so aufregend gefunden hatte, damals, auf dem Liebeslager in der Gartenhütte. Es war ein Duft, den sie kannte. Ein vertrauter Geruch, der sie an die ersten Küsse erinnerte, damals, nach der Tanzstunde. Er roch, wie Männer früher rochen: nach ›Tabac‹ und mehrmals getragenene Nyltesthemden, vermischt mit Zigarettenrauch und dem Geruch von Bier. Es war ein Geruch, der von der Erinnerung lebte, die er auslöste. Erinnerung an Zeiten, in denen man noch auf alles hoffen durfte.
    In Kiel standen die teureren Sorten von Duftwässern im Badezimmerregal, lagen die besseren Hemden in Leos penibel aufgeräumtem Kleiderschrank. Von Bier war er umgestiegen auf die leichten italienischen Weißweine, die man in ihren Kreisen bevorzugte. In denen man sich auch das Rauchen längst abgewöhnt hatte.
    Leo hatte seine Vergangenheit restlos abgelegt. Er verteidigte nicht einmal die Friedensbewegung der DDR gegen ihre westdeutschen Kritiker, die Zurückhaltung predigten, weil sonst der Prozeß der Aussöhnung zwischen Ost und West Schaden nehmen könne – »Wandel durch Annäherung« und wie die Phrasen damals alle hießen, dachte Anne bitter. Sie hingegen hatte sich aufgeregt über die westdeutschen Besitzstandswahrer, die über ihre spät entdeckte Friedensliebe die Freiheitswünsche anderer Völker – etwa der Polen – großzügig zu vergessen pflegten. Leo sagte dazu selten etwas. Überhaupt überließ er es ihr, die erste Geige zu spielen.
    »Fühlst du dich als mein Anhängsel?« hatte sie ihn einmal gefragt, nach einer Party, auf der sie im Mittelpunkt und er meistens am Rande gestanden hatte.
    »Nein.« Leo hatte sie liebevoll-spöttisch angesehen. »Ich bin der Mann einer Frau, der jeder eine große Zukunft vorhersagt. Das finde ich völlig ausreichend.«
    Er spielte die Rolle des Begleiters perfekt. Überall war er dabei: auf Konferenzen, bei öffentlichen Veranstaltungen – sogar bei Parteitreffen in Hinterzimmern, auf denen Intrigen eingefädelt, Seilschaften gebildet und Gegner ausgebootet wurden. Mit ihm konnte sie Strategie und Taktik diskutieren, er war der sprechende Spiegel, der ihr eigenes Auftreten lobte oder kritisierte. Wem zu trauen war und wem nicht, wen man heranzog, wem wichtige Aufgaben zuschob – und wen man möglichst geschickt aufs Abstellgleis bugsierte: Auf Leos Urteil gründeten sich nicht wenige ihrer Entscheidungen. Sie traute seinem Instinkt, seiner Menschenkenntnis. Und seiner Verschwiegenheit.
    »Du solltest dich ein bißchen mehr zurückhalten, wenn du dich mit Heike triffst«, hatte er ihr einmal geraten.
    »Wieso denn das, um Himmels willen?« hatte sie scharf zurückgefragt. »Sie ist meine beste Freundin.«
    »Eben. Bist du sicher,

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