Caruso singt nicht mehr
alles schlecht, willst du damit wohl sagen, oder?« Dieser traurige Nostalgiker wollte Leo sein, ihr freiheitsbewußter Mann? Den der Staat rausgeschmissen hatte, dem er jetzt offenbar nachtrauerte? »Wegen der vielen menschlichen Wärme, ja? Und den Ganztagskindergärten?« Sie war damals ernstlich wütend geworden. An Leo hatte sich plötzlich entladen, was ihr schon lange die Freude über den Fall der Mauer vergällte: Sie hatte keine Lust mehr auf das Ossi-Gejammere, auf die DDR-Nostalgiker, auf die Sprüche vom »Plattmachen« und »Kolonialisieren«. Und auf die Arroganz, mit der man drüben glaubte, all die Jahre im moralisch besseren Deutschland gelebt zu haben.
»Es war nicht alles schlecht in der DDR«, hatte Leo spöttisch geantwortet, der offenbar ihre Wut noch anstacheln wollte.
»Dann waren alle DDR-Bürger dumm. Die haben nämlich den Westen ganz freiwillig gewählt – mitsamt der deutschen Mark, dem Billigflug nach Mallorca und dem Weißen Riesen«, hatte sie scharf gesagt.
»Freiwillig? Du meinst, von den westdeutschen Medien manipuliert?« Leo hatte sie, das hatte sie damals erschreckt registriert, fast mit Verachtung in den Augen angesehen. In diesem Moment hatte sie sich verzweifelt gefragt, was zwischen ihnen passiert war. So waren zwischen ihnen noch nie die Fetzen geflogen. Wieso führten sie sich wie Karikaturen von Ossi und Wessi auf, bewehrt mit allen Klischees, die das deutsch-deutsche Verhältnis mittlerweile so ungemütlich machten?
»Leo«, hatte sie einlenkend gesagt und die Hand auf seine Hand gelegt. Er hatte sie weggezogen.
»Wir hätten eine Chance haben müssen«, hatte er mürrisch gesagt. »Unseren eigenen Weg gehen. Der unserer Identität entspricht.«
Schon war auch ihre Wut wieder dagewesen. »Weißt du, was dann passiert wäre?« Sie war schneidend gewesen. »Sie wären alle bei uns gelandet, deine nach Bescheidenheit und Herzlichkeit dürstenden Landsleute. Mitten in der Ellenbogengesellschaft. Innerhalb von drei Monaten hättet ihr euren dritten Weg in einer leergeräumten DDR allein ausprobieren können.«
»Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Euch wird der Brocken, den ihr geschluckt habt, schon wieder hochkommen. Und ich sage dir eins, Anne« – Leos Gesicht war plötzlich knallrot geworden, er schob seinen Teller von sich und den Stuhl so abrupt zurück, daß er mit Krachen umfiel. »Es wird euch nicht gelingen, sämtliche Träume der Menschheit abzuwickeln. Platt zu machen. Totzuschlagen.«
Anne hatte sprachlos dagesessen und zugesehen, wie er aus dem Zimmer stürmte. Wie immer untadelig gekleidet und rasiert. Und nach Hermés duftend. Der, den sie manchmal als den besseren Bundesbürger empfunden hatte, der sich dem Leben im Westen so durch und durch angepaßt hatte, träumte von untergegangenen Utopien. Anne hatte Trotz in sich hochsteigen fühlen. Natürlich lief vieles schief im Prozeß der deutschen Einheit. Sie wäre ja beschränkt, wenn ihr das nicht auffallen würde. Die Ostdeutschen insbesondere zahlten einen hohen Preis. Aber noch nie war sie so tief davon überzeugt gewesen, daß nur dies der richtige Weg war. Es gab keinen dritten.
Die Stimmung zwischen ihnen war lange gereizt geblieben. Leo reiste, war ständig unterwegs, noch öfter als sonst. Und war er einmal zu Hause, vermieden beide das Thema. Es war ja auch keins mehr: Die deutsche Einheit war vollzogen, Rebellion war zwecklos geworden.
Mehr als einmal war Anne aufgefallen, daß Leo Geld ausgab, viel Geld, das nicht von ihrem gemeinsamen Konto stammte. Und eigentlich, fand sie manchmal, ging es sie durchaus etwas an, wo und womit er seine Zeit verbrachte, wenn er nicht da war. »Was ist los mit euch beiden?« hatte sogar Rena sie einmal gefragt. »Nicht mehr viel«, wäre die wahrheitsgetreue Antwort gewesen. Aber auch das hatte sie damals nicht wahrnehmen wollen.
Um vier Uhr früh schlossen Rudolf und Werner die Tür zu Annes Hofladen auf. Sie hatten schon seit Jahren einen Schlüssel, damit sie ihre Jagdbeute noch in der Nacht unterbringen konnten. Rudolf schleppte ein Jungschwein, und Werner hatte in jeder Hand einen Hasen an den Ohren. Aus irgendeinem Grund steuerten beide die rechte Kühlkammer an, um Anne das frisch geschossene Wild auf den Haken zu hängen. Sonst hatten sie meist die linke genommen. »Das war Schicksal«, sagte der blonde Werner später immer wieder bedeutungsschwer in sein Bierglas. »Das war ganz klar Schicksal.«
»Ach du liebe Güte«, murmelte
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