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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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daß sie nicht klatscht?«
    »Ich dachte, ihr mögt euch, du und sie?«
    Leo lachte. »Sei nicht sentimental. Gefühle und Politik sollte man nicht miteinander verwechseln.«
    Getroffen. Das hatte sie ihm als ihre eigene Philosophie mehr als einmal gepredigt.
    »Gibt es da etwas, das ich wissen müßte?« hatte sie gefragt.
    Sie sah ihn vor sich, wie er vor dem Spiegel stand, das Kinn hochgereckt, um sich den Schlips zu binden. Damals hatte sie seine Eitelkeit verliebt belächelt: Leo plante geradezu generalstabsmäßig die Reihenfolge, in der er seine elegant geschnittenen Anzüge aus dem Kleiderschrank holte.
    »Nicht direkt, Liebste.« Leo zog den Windsorknoten fest und betrachtete sich kritisch im Spiegel. »Instinktsache. Trau mir.«
    Heike hatte nie verstanden, warum die Freundschaft mit Anne zusehends abkühlte. Anne hatte es ihr nie erklärt.
     
    Nur eines hatte Leo sich ausbedungen – für seine Rolle als »Aktentaschenträger der gnädigen Frau«, wie er sich selbst titulierte. Er wollte reisen: ohne sie, ohne Ziel, ohne Plan und ohne große Vorankündigung.
    » Das hat mich am Westen angezogen – abhauen können«, hatte Leo ihr eines Abends mit ungewohnter Bitterkeit gesagt, »nicht eure Konsumwelt, eure Karrieren, euer langweiliger Wohlstand und eure noch langweiligere Wohlanständigkeit.«
    »Eure? Unsre? Nicht auch deine?« hatte Anne zurückgefragt.
    Leo hatte geschwiegen. Und war am nächsten Tag aufgebrochen – zu einer dieser Reisen, von denen er meistens schon nach vier, fünf Tagen zurückkehrte, entspannt, gelöst, bester Dinge und ohne ihr jemals zu verraten, wo er gewesen war.
     
    Heute konnte sie es sich denken. Damals verstand sie nicht, warum, als im November 1989 die Mauer fiel, nicht nur ganze Weltreiche, Weltanschauungen, ja, die Koordinaten der Weltpolitik zerbröselten, sondern auch Annes Ehe. Denn Anne war glücklich – und glaubte, daß es alle anderen auch sein müßten.
    Gott, hab ich geflennt, dachte sie. Sie hatte am 9. November mit Rena vor dem Fernseher gehockt und fassungslos beobachtet, wie sich das, was für die Ewigkeit gebaut war – die deutsch-deutsche Grenze, der »antifaschistische Schutzwall« –, in Stunden, ja, in Minuten in nichts auflöste. Es war wie des Kaisers neue Kleider: Eben glaubten noch alle, in der Mauer eine unüberwindbare Staatsgrenze zu erkennen. Und im nächsten Moment sah man nichts als ein banales Bauwerk, das man wie jede andere Mauer behandeln konnte: Euphorisch kletterten Jugendliche hinauf und winkten in die Kameras. Mauerspechte begannen, den Beton zu zerlöchern. Breschen öffneten sich. Der Mythos war zerstört.
    Anne hatte in ihrer Euphorie damals erst gar nicht gemerkt, daß Leo im Halbdunkel ihres Schlafzimmers saß, nervös eine Zigarette nach der anderen rauchte und den Whisky aus Wassergläsern trank. Erst als er zu fortgerückter Stunde böse und bitter das Deutschlandlied anstimmte – erste Strophe! –, fiel ihr auf, daß etwas nicht stimmte.
    Am nächsten Tag war er verschwunden. Anne war froh, daß die Ereignisse sie ablenkten und keine Zeit war, sich Gedanken über sein langes Ausbleiben zu machen. Sie wollte an die jetzt offene Grenze fahren, die Ströme von Menschen sehen, die einander freudig begrüßten, mit Sektflaschen in der Hand und Tränen in den Augen. Noch fand es niemand aus dem Osten beleidigend, wenn man ihm zur Begrüßung nicht nur Blumen, sondern auch Geldscheine hinhielt. Noch beklagte sich keiner aus dem Westen, daß die Supermärkte in den grenznahen Orten in Windeseile leergekauft waren.
    Anne erinnerte sich, wie sie immer wieder fassungslos über die ehemalige »Zonengrenze« gefahren war; an den Anblick der kahlgeschlagenen, scheinwerferausgeleuchteten, mit Minen und Selbstschußanlagen scharf gemachten Zäsur, die sich als Staatsgrenze aufgeführt hatte. Noch gab es Grenzposten und Paßkontrollen. Schon lächelten die DDR-Grenzer – was manchem von ihnen noch schwerfiel. Bald pfiff der Wind durch leerstehende Abfertigungshallen. Und später vermißte sie manchmal ein Zeichen dafür, daß Schlutup jahrzehntelang kein Kaff wie all die anderen norddeutschen Dörfer war. Sondern der von Kiel aus nächste Grenzübergang zwischen der Bundesrepublik und der DDR.
    Leo war nach zwei Wochen zurückgekehrt – schlecht rasiert und schlechtgelaunt. Die begeisterten Pilgerfahrten in die DDR, die Anne und ihre politischen Freunde unternahmen, interessierten ihn nicht. Ebensowenig die Vorbereitung der ersten

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