Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
zuerst »Galerie« genannt hat, doch die Bezeichnung setzte sich durch. Ich bin froh, dass unser Treffpunkt den Leuten so viel bedeutet, dass sie ihm einen Namen geben wollten. Am meisten berührt es mich, wenn ich das Flüstern derer höre, die zum ersten Mal hierherkommen und ehrfürchtig, eine Hand vor dem Mund und Tränen in den Augen, vor der Wand stehen. Ich kann mich natürlich irren, aber ich glaube, dass viele von ihnen genauso empfinden wie ich, wann immer ich hierherkomme.
Ich bin nicht allein.
Wenn ich Zeit habe und etwas verweilen kann, bringe ich jedem, der es möchte, das Schreiben bei. Die Lernwilligen gucken sich ihre ersten Buchstaben von mir ab und malen sie nach, zuerst ungeschickt, später zielstrebig und selbstbewusst.
Ich unterrichte Druckschrift, nicht die schnörkelige Schreibschrift, die mir Ky beigebracht hat. Die Druckschrift mit ihren separaten Buchstaben und den markanten Linien ist leichter als die Schreibschrift, deren kontinuierlichen, schwer zu erlernenden Schwünge unseren Fingern fremd sind. Dennoch schreibe ich selbst hin und wieder in Schreibschrift, weil es mir hilft, den roten Faden meiner Gedanken nicht zu verlieren und meine Verbundenheit mit Ky zu spüren. Wenn ich schreibe, ohne den Stock vom Boden oder den Stift vom Papier zu heben, erinnert mich das an Hunter und seine Leute, die blaue Linien auf ihre Haut zeichneten und sie dann von einer Person zur anderen weitermalten, als Zeichen ihrer Verbundenheit.
»Das sieht schwieriger aus«, sagt ein Mann, der mir zusieht. »Aber auch die andere Methode ist nicht schlecht.«
»Stimmt«, sage ich.
»Warum haben wir nicht schon viel früher damit angefangen?«, fragt er mich.
»Manche haben es getan«, antworte ich, und er nickt.
Wir müssen vorsichtig sein. Noch immer treiben Gruppen gewaltbereiter Gesellschafts-Sympathisanten ihr Unwesen, und sie können gefährlich werden. Die Erhebung hat Versammlungen wie die unsere zwar nicht ausdrücklich verboten, aber der Steuermann hat alle dazu aufgerufen, sich hauptsächlich auf die Arbeit und die Überwindung der Seuche zu konzentrieren. Er hat uns eingeschärft, dass die Rettung von Menschenleben augenblicklich am wichtigsten ist. Sicher hat er recht, aber in gewisser Weise retten wir hier in der Galerie auch uns selbst. So viele von uns mussten lange warten, bis sie selbst kreativ werden konnten, oder mussten verbergen, was sie erschaffen hatten.
Wir bringen alles zur Galerie, was wir selbst hergestellt haben. Zahlreiche Bilder und Gedichte wurden mit Baumharz an die Wand geklebt oder mit Steinen beschwert vor der Wand abgelegt. Sie sehen aus wie verstreute Fahnen: Terminalpapier, Servietten oder sogar irgendwo herausgerissene Stofffetzen.
Eine Frau schnitzt Muster in Holzstücke, schwärzt sie mit Asche, presst die Schnitzereien auf Papier und hinterlässt so Abdrücke ihrer Arbeiten für uns.
Ein Mann, der einmal Funktionär gewesen sein muss, hat all seine weißen Uniformen mit einer eigens entwickelten Methode bunt eingefärbt. Aus dem Stoff schneidert er Kleidung, wie ich sie noch nie gesehen habe, mit Zipfeln, Verzierungen und ungewöhnlicher, aber passender Schnittführung. Er hängt seine Kreationen ganz oben in der Galerie auf, und sie erscheinen mir wie mögliche Zukunftsvisionen unserer späteren Lebensweise.
Dalton bringt immer etwas Schönes, Interessantes mit, das sie aus irgendetwas Altem, Gebrauchtem gebastelt hat. Heute hat sie eine menschliche Figur aus Stoff-und Papierfetzen dabei, mit Steinen als Augen und Samen als Zähne. Die Figur ist schön und schrecklich zugleich. »O Dalton!«, sage ich.
Sie lächelt, und ich beuge mich näher zu der Figur. Ich rieche das aromatische Baumharz, mit dem sie ihre Werke zusammenklebt.
»Es geht das Gerücht«, sagt Dalton leise, »dass nach Einbruch der Dunkelheit jemand singen wird.«
»Meinst du, diesmal stimmt es wirklich?«, frage ich. Schon öfter war davon die Rede, aber nie hat wirklich jemand gesungen. Gedichte, Skulpturen und Bilder sind leichter zu präsentieren, denn wir müssen das, was wir zu geben haben, nicht unmittelbar dem Urteil des Publikums aussetzen.
Bevor Dalton antworten kann, steht plötzlich jemand neben mir. Ich wende mich um und sehe einen Archivisten, den ich kenne. Panik überkommt mich – wie hat er die Galerie gefunden? Dann fällt mir ein, dass die Archivisten nicht unsere Feinde sind und wir nicht geschäftlich mit ihnen konkurrieren. An diesem Ort wird miteinander geteilt.
Er
Weitere Kostenlose Bücher