Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Geheimnis erfahren würde. Wenn er es wüßte, würde er mich nicht mehr achten. Seine Meinung über mich wäre dann nicht viel besser als die über Fanny, vielleicht sogar noch schlechter.
»Warum schlägst du die Augen nieder, Heavenly?«
Weinend versuchte ich ihm in die Augen zu blicken. Wenn ich ihm doch nur alles hätte erzählen können. Ich wollte alles loswerden, ihm erklären, wie ich in Candlewick von den äußeren Bedingungen abhängig gewesen war. Ich fing so stark zu zittern an, daß Tom mich in die Arme nahm und ich meinen Kopf an seine Schulter lehnen konnte. »Bitte, wein nicht, weil du so glücklich bist, mich zu sehen, sonst muß ich auch weinen. Seit dem Tag, an dem mich Buck Henry Vater abgekauft hat, habe ich nicht mehr geweint. Mann, aber in jener Nacht hab’ ich geheult und nur gegrübelt, was mit dir geschehen würde. Heavenly, es geht dir doch gut, nicht wahr? Ist dir etwas Schlimmes zugestoßen?«
»Natürlich geht es mir gut. Sieht man mir das nicht an?«
Er sah mir prüfend ins Gesicht, während ich mich bemühte zu lächeln und alle Schuld und Scham, die ich empfand, zu verbergen. Was er sah, gefiel ihm wohl, denn nun lächelte er auch wieder. »Mann, Heavenly, es ist gut, wieder mit dir zusammen zu sein. Also, erzähl mir alles, was du seit dem Tag, an dem ich weggegangen bin, erlebt hast – aber mach schnell, ich muß in ein paar Minuten wieder weg.«
Er hatte es so eindringlich gesagt, daß ich mich unwillkürlich umdrehte. War denn Buck Henry mit Tom in die Stadt gekommen?
»Du bist zuerst dran, Tom. Erzähl mir alles, was du nicht in deinen Briefen geschrieben hast!«
»Keine Zeit«, sagte er, dabei sprang er auf und zog mich mit sich hoch; ich erblickte eine mir bekannte, untersetzte Gestalt, die gerade die Straße herunterkam. »Er sucht mich. Er ist in der Stadt, um Medikamente für zwei kranke Kühe zu kaufen. Beim nächsten Mal mußt du mir mehr von deinem Leben in Candlewick erzählen. Du berichtest so wenig davon in deinen Briefen, dafür aber um so mehr von Kinos, Restaurants und Kleidern. Ehrlich gesagt, ich finde den Tag sehr segensreich, an dem uns Vater verkauft hat.«
Auf einmal sah ich, wie ein Schatten über seine smaragdgrünen Augen huschte, was mich etwas an seinem so inständig beteuerten Glück zweifeln ließ: »Ich geh’ jetzt zu Mr. Henry. Schau nächsten Samstag nach mir. Ich werd’ Laurie und Thalia mitbringen… wir könnten zusammen zu Mittag oder zu Abend essen, noch besser beides – wenn’s klappt!«
Lange blickte ich ihm nach. Ich war betrübt, daß er schon fort mußte. Die Tränen liefen mir die Wangen hinunter, während ich Tom beobachtete, wie er neben dem Mann ging, von dem ich nicht glauben konnte, daß er ihn wirklich mochte. Aber Tom sah gut aus. Er war groß und stark und machte einen glücklichen Eindruck. Die Schatten in seinen Augen hatten sich wohl von meinen Augen auf ihn übertragen. Immer schon hatte sich bei ihm alles widergespiegelt, was ich empfand.
Am nächsten Samstag würde ich ihn wiedersehen. Ich konnte den Tag kaum erwarten.
20. KAPITEL
V ERWIRRTE G EFÜHLE
Als ich schließlich das Haus der Settertons erreicht hatte, wartete Cal schon auf mich. »Heaven!« rief er mit entgegen, als er mich die Treppe hinaufsteigen sah. »Wo, zum Teufel, warst du? Ich habe mich halbtot geängstigt.«
Cal war der Mann, der mich liebte; zuerst hatten seine Zuneigung und Fürsorge mich glücklich gemacht, aber als er mein Liebhaber wurde, empfand ich seine Liebe als Schande. Alles in allem hatte ich das Gefühl, in die Falle geraten zu sein. Ich wehrte mich nicht gegen seine flüchtige Umarmung und seinen hastigen Kuß; verwirrt und verzweifelt schien ich im Nebel zu tappen. Ich liebte ihn, weil er mich vor Kittys schlimmsten Gemeinheiten bewahrt hatte, aber gleichzeitig wünschte ich mir, daß er mein Vater geblieben und nicht mein Geliebter geworden wäre.
»Warum siehst du mich so an, Heaven? Kannst du mich nur in Candlewick lieben und nicht in Winnerrow?«
Ich wollte ihn nicht auf die Art lieben, wie er es sich wünschte. Und ich durfte es nicht zulassen, daß seine Gefühle und Bedürfnisse mich überwältigten. »Ich habe heute Tom gesehen und Fanny und Großvater«, flüsterte ich heiser.
»Und trotzdem weinst du? Ich dachte, du wärst jetzt glücklich?«
»Es kommt nie so, wie man es sich vorstellt, nicht wahr? Tom ist jetzt so groß wie Vater, dabei ist er erst siebzehn.«
»Und wie geht’s deinem
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