Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
mächtig einsam für ’ne Frau hier so ganz alleine, Luke, ohne Mann und nur in Gesellschaft von alten Leuten und Kindern.«
»Bis bald!« rief Vater und lief eilig zu seinem Lieferwagen. »Hab’ ‘nen Job bekommen. Wenn ich damit fertig bin, komm’ ich nach Haus und bleib’ die Nacht.«
Eine ganze Woche kam er nicht. Abends saß ich auf der Treppe zur Veranda und starrte in den düsteren, stürmischen Himmel. Bittere Gedanken bedrängten mich. Es mußte einen besseren Ort für mich geben als diesen. Irgendwo gab es einen besseren Ort. Eine Eule schrie, dann folgte das Heulen eines herumirrenden Wolfes. Die Nacht war von tausend Geräuschen erfüllt. Aus dem Norden kam der Herbstwind und jammerte und pfiff zwischen den Bäumen hindurch.
Ich betrachtete die Mondsichel, die von einer dunklen Wolke zur Hälfte verdeckt wurde; es war der gleiche Mond, der über Hollywood, New York City, London und Paris stand. Ich fröstelte und hustete, aber ich wollte nicht in den überfüllten Raum zurückkehren und mich zwischen Fanny und Unsere-Jane legen. Tom und Keith schliefen neben Großmutter und Großvater auf dem Boden.
Während die anderen Familienmitglieder mehr oder weniger friedlich schlummerten, hörte ich das leise Schlurfen alter Füße, das sich langsam näherte. Mit rasselndem Atem, stöhnend und ächzend, setzte sich Großmutter neben mich auf die Treppe.
»Holst dir noch den Tod in der Nachtkälte. Glaubst wohl, deinem Vater tut es dann leid, aber wirst du in deinem Grab glücklich sein?«
»Großmutter, Vater soll mich nicht so verachten. Warum kannst du ihm nicht erklären, daß es nicht meine Schuld ist, daß Mutter gestorben ist?«
»Er weiß, daß es nicht deine Schuld ist, tief im Herzen. Aber wenn er’s zugibt, muß er sich selbst die Schuld geben, daß er ‘n Mädchen wie sie geheiratet und in die Berge gebracht hat, die sie nicht gewöhnt war. Sie gab ihr Bestes, bei Gott, das kann man sagen. Seh’ sie noch vor mir, wie sie wäscht und schrubbt und ihre schönen, weißen Hände ruiniert. Und wie sie ihr Haar, eine wahre Pracht, nach hinten streift… Sie lief immer wieder zum Koffer hin, voller Töpfchen war er, und rieb sich mit Creme ein. Sie versuchte alles, um ihre Hände schön und jung zu erhalten.«
»Großmutter, du weißt, ich bring’ es nicht übers Herz, den Koffer aufzumachen und ihre ganzen schönen Sachen anzusehen. Was nützen diese Kleider hier oben, wo kein Mensch hinkommt? Aber neulich in der Nacht habe ich von der Puppe geträumt – sie war ich, und ich war sie. Eines Tages werde ich nach Boston fahren und die Familie meiner Mutter suchen. Ich will ihnen erzählen, was ihrer Tochter zugestoßen ist, das schulde ich ihnen. Sie nehmen sicherlich an, daß sie noch irgendwo lebt und glücklich ist.«
»Hast recht. Hab’ selbst nie dran gedacht, aber hast recht.« Sie umarmte mich flüchtig mit ihren alten, dünnen, kraftlosen Armen. »Du mußt nur wissen, was du willst, dann bekommst du’s schon, bestimmt.«
Für Großmutter war das Leben auf den Bergen härter als für uns alle. Niemand außer mir schien bemerkt zu haben, daß Großmutter das Aufstehen und Niedersetzen viel schwerer fiel als sonst. Oft hielt sie mitten im Gehen inne und preßte ihre Hand gegen das Herz. Manchmal wurde sie aschgrau im Gesicht und schnappte nach Luft. Es nützte nichts, wenn man ihr vorschlug, zu einem Arzt zu gehen; sie glaubte nicht an Ärzte und schon gar nicht an Medikamente, die sie sich nicht selbst aus Wurzeln und Kräutern, die ich für sie sammelte, zusammengebraut hatte.
Durch Sarahs grimmiges und düsteres Verhalten wurde jeder Tag zur Qual. Es sei denn, Logan und ich waren zusammen. Und dann eines schrecklichen Tages, die Sonne schien glühend heiß, fand ich ihn unten am Fluß, und Fanny hüpfte splitternackt vor ihm am Ufer hin und her! Lachend forderte sie ihn auf, sie zu fangen. »Und wenn du mich gefangen hast – bin ich dein, nur dein«, lockte sie ihn. Ich stand wie erstarrt und war über Fannys Verhalten entsetzt. Ich wartete jedoch ab, was er tun würde.
»Schäm dich, Fanny«, rief er ihr zu. »Du bist nur ein Kind, das eine gehörige Tracht Prügel verdient.«
»Dann fang mich doch und gib sie mir!« forderte sie ihn heraus.
»Nein, Fanny«, schrie er zurück, »du bist einfach nicht mein Typ.« Er drehte sich um und machte sich anscheinend auf den Weg nach Winnerrow. In diesem Augenblick trat ich hinter dem Baum hervor, der mich vor seinen Blicken versteckt
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