Casteel-Saga 03 - Gebrochene Schwingen
sich. Plötzlich schien er gealtert, obwohl er doch eigentlich zwanzig Jahre jünger war als Jillian und noch nicht solche Altersanzeichen zeigen durfte. Sein Haar schien grauer geworden zu sein, seine Augen dunkler, die Falten auf seiner Stirn schienen tiefer, und er bewegte sich langsamer. Seine aristokratische Haltung war nicht mehr zu sehen.
Er zog sich auch nicht mehr so sorgfältig an. Früher war er ohne Anzug und Krawatte nicht aus seinem Zimmer gegangen. Nun trug er ein Hemd mit offenem Kragen und eine Hose, die gebügelt werden müßte. Er kämmte und rasierte sich nicht. Sein größtes Verlangen war nun immer wieder, alte Dokumente, Fotos und alle möglichen Erinnerungsstücke durchzusehen. Gleich nach dem Frühstück, das jetzt für ihn aus wenig mehr als Kaffee bestand, zog er sich in sein Büro zurück und verbrachte Stunden damit. Er mochte es nicht, wenn irgend etwas oder irgend jemand ihn unterbrach. Mit Logan und mir sprach er nur kurz angebunden.
Aus den Tatterton-Geschäften und aus seinen Büros kamen Anrufe, aber er kümmerte sich nicht darum. Logan tat, was er konnte. Aber er wußte nicht genug Bescheid, und er hatte seine eigenen Verantwortlichkeiten in Winnerow. Ich wußte, er fieberte darauf, zu seinem Projekt zurückkehren zu können. Schließlich sagte ich ihm, er solle gehen.
»Aber ich mag dich nicht allein lassen, so, wie die Dinge jetzt liegen«, sagte er. »Kannst du nicht für ein paar Tage mit mir kommen? Ich möchte dich bei mir haben. Es ist wichtig für mich und…«
»Ich glaube, ich sollte so schnell nicht fortgehen, Logan. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde es schon schaffen. Es ist Tony, der eine harte Zeit hat.«
Logan nickte schweigend. »Als ob ich das nicht wüßte. Ich bin zu ihm gegangen, um mit ihm über ein paar Entscheidungen in Winnerow zu reden, und weißt du, was er geantwortet hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Er verhielt sich, als hätte er nie von dem Projekt gehört. Was ist das für ein Projekt? fragte er. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Im nächsten Augenblick steckte er seinen Kopf wieder in die Kartons. Ich hätte nicht gedacht, daß Tony ein Mann ist, dem es gefällt, in einer Traumwelt zu leben«, sagte er. »Er ist doch viel zu sehr Realist, viel zu praktisch.«
»Vielleicht wenn es um andere ging, aber nicht bei sich selbst. Wir haben alle unsere eigenen Illusionen, Logan.«
Seine Augen wurden groß. »Ja?« Er schaute mich einen Augenblick lang mit einem seltsamen Ausdruck an, dann zuckte er die Schultern. »Ich denke, ich werde alle Entscheidungen, die anstehen, selber treffen müssen.«
»Das hätte Tony sowieso von dir erwartet«, sagte ich. »Er hätte dir nicht die Verantwortung übertragen, wenn er dir nicht vertrauen würde.«
»Vielleicht hast du recht. Nun gut. Ich komme am Wochenende wieder«, sagte er. »Ich melde mich jeden Abend. Rufe mich auf jeden Fall an, wenn es irgendwelche Probleme geben sollte.«
»Das verspreche ich. Mach dir keine Sorgen.« Er organisierte seinen Rückflug nach Winnerow. Dann ging er nach oben, um seine Tasche zu packen. Ich saß allein im Wohnzimmer, als er zurückkam, um sich zu verabschieden. Wir küßten uns, und er brach auf. Ich konnte es ihm nicht vorwerfen, daß er dieses düstere Haus schnell verlassen wollte.
Einige Male ging ich zu Tony. Doch jedes Mal fand ich ihn versunken in Dokumente oder ein Fotoalbum.
»Du mußt wieder regelmäßig essen, und du mußt dich so bald wie möglich wieder an einen normalen Tagesablauf gewöhnen«, hatte ich ihm gesagt, als ich das letzte Mal bei ihm hereingeschaut hatte. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie du deine Trauer bewältigen kannst.«
Er hörte auf zu lesen und schaute mich an, als ob er erst in diesem Augenblick begreife, was geschehen war. Alle Vorhänge waren fest zugezogen, so daß die warme Nachmittagssonne den dunklen, düsteren, ungemütlichen Raum nicht erwärmen konnte. Die einzige Lichtquelle war die Lampe auf seinem Schreibtisch, die ein blasses helles Licht auf ihn warf. Er schaute sich in seinem Büro um, auf die Dokumente und Bilder, dann sah er mich wieder an. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schob seine Lesebrille auf die Stirn.
»Gut«, sagte er. »Wie spät ist es?« Er schaute auf die Großvateruhr in der Ecke des Zimmers und beantwortete damit selbst seine Frage: »Ich war wohl ganz schön lange hier drinnen.«
»Ja, das warst du. Und du hast nichts Richtiges gegessen.«
»Ich mag es, wenn du dich
Weitere Kostenlose Bücher