Casteel-Saga 03 - Gebrochene Schwingen
Mommy«, sagte er, stand vom Stuhl auf und rannte an mir vorbei. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich schaute Logan an und schüttelte den Kopf. Bei kleinen Kindern war die Trauer wie ein riesiger Vogel in einem kleinen Käfig: nicht genug Platz zum Leben.
Drake öffnete die Türe zum Schlafzimmer seiner Eltern und starrte auf das leere, unberührte Bett. Ich ging zu ihm hin. Er drehte sich um, und seine Augen waren voller Angst, als er zu mir aufschaute. In dem Moment erinnerte er mich an Keith, als der in seinem Alter war. Keith hatte auch immer diesen Ausdruck in den Augen gehabt. Ich nahm ihn in meine Arme, drückte ihn fest an mich und küßte ihm die Wangen, so wie ich damals die Tränen aus Keiths kleinem Gesicht weggeküßt hatte.
»Ich muß dir etwas sagen, Drake«, sagte ich. »Und du wirst jetzt ein großer Junge sein und mir genau zuhören, ja?«
Mit seinen kleinen Fäusten rieb er sich die ersten Tränen aus den Augen. Er hatte sicher Lukes innere Stärke geerbt. Schon jetzt, mit kaum sechs Jahren, wollte er seine Angst und seine Trauer nicht zeigen. Ich setzte ihn auf das Bett, wobei ich ihn die ganze Zeit über in den Armen hielt.
»Weißt du, was es bedeutet, wenn Menschen sterben und in den Himmel kommen?« fragte ich ihn. Er sah mich erstaunt an, und ich begriff die Verwirrung. »Ja, mein Name heißt auch Himmel. Aber es gibt auch einen Ort, der Himmel heißt. Da gehen die Menschen hin und bleiben für immer dort. Hast du von diesem Ort je gehört?« Er schüttelte den Kopf. »Nun, es gibt einen solchen Ort, und manchmal müssen die Menschen schneller dorthin, als sie es erwartet haben«, sagte ich.
Logan kam zur Türe herein und beobachtete uns. Neugierig betrachtete ihn Drake, und Logan lächelte ihn voller Wärme an. Dann wandte sich Drake wieder mir zu, denn er war gespannt auf den Rest der Geschichte. Ich bemerkte, daß es für ihn nur eine Geschichte war. Wahrscheinlich hatte Stacie ihn oft so im Arm gehalten und ihm Geschichten erzählt. Aber er durfte es nicht für ein Märchen halten, dachte ich. Irgendwie mußte ich es ihm verständlich machen.
»Letzte Nacht, Drake, hat Gott deine Mommy und deinen Daddy in den Himmel gerufen. Darum mußten sie gehen. Sie wollten dich natürlich nicht verlassen«, sagte ich schnell, »aber sie hatten keine Wahl. Sie mußten gehen.«
»Wann kommen sie zurück?« wollte Drake wissen, denn er spürte, daß etwas Schlimmes in der Luft lag.
»Sie kommen niemals wieder zurück, Drake. Sie können nicht, selbst wenn sie es wollten. Wenn Gott dich ruft, dann mußt du gehen und kannst nicht mehr zurück.«
»Ich will auch dahin gehen«, sagte er und wollte sich aus meinen Armen losmachen.
»Nein, mein Liebling. Du kannst nicht gehen, weil Gott dich nicht gerufen hat. Du wirst auf der Erde bleiben. Du kommst mit mir und lebst in einem großen Haus. So viele schöne Dinge wirst du haben, daß du gar nicht wissen wirst, womit du zuerst spielen sollst.«
»Nein!« schrie er. »Ich will zu meiner Mommy und zu meinem Daddy gehen.«
»Das kannst du nicht, Liebling. Aber sie würden jetzt wollen, daß du glücklich bist und umsorgt wirst und daß du ein toller junger Mann wirst. Das wirst du doch für sie tun, oder?«
Seine Augen verengten sich. Die Muskeln in seinen Armen spannten sich an, und die Wut färbte seine Wangen rot. Er hatte Lukes Temperament, dachte ich. Als ich in seine Augen blickte, glaubte ich, daß Zeit und Raum bedeutungslos wären: Über den Tod hinaus sah mich Luke aus diesen Augen an.
»Hasse mich nicht dafür, daß ich dir diese Dinge sagen mußte, Drake. Ich will dich lieben, und ich will, daß du mich liebst.«
»Ich will zu meinem Daddy«, schrie er. »Ich will in den Zirkus gehen. Laßt mich gehen! Laßt mich gehen!« Er kämpfte gegen meine Umarmung an, bis ich ihn losließ. Sofort rannte er aus dem Zimmer.
»Gib ihm Zeit, Heaven«, beruhigte mich Logan. »Selbst bei einem kleinen Jungen braucht es Zeit.«
»Ich weiß.« Ich schüttelte den Kopf und sah mich im Schlafzimmer um. Auf dem kleinen Nachttisch stand ein Bild von Luke und Stacie, wie sie in inniger Umarmung vor dem Haus standen. Wie jung und glücklich Luke aussah. Wie verschieden war er von dem Mann, den ich als Pa in den Willies gekannt hatte. Wenn das Leben nur damals für ihn so schön gewesen wäre, dann wären wir alle glücklich gewesen.
»Wir frühstücken jetzt besser und ziehen uns an, Liebling«, sagte Logan. »Du wolltest dich mit dem Anwalt treffen und bei
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