Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
»Er ist zu seiner Werft gefahren.«
»Er ist fort? Ist er wirklich gegangen?« schrie ich. Nein, er war bestimmt nicht fortgegangen, ohne sich von mir zu verabschieden, ohne mir einen letzten Kuß zu geben.
»Ja, er ist fort. Und jetzt laß uns essen.« Sie wandte sich ab.
Aber er kann nicht fortgegangen sein, schrie es in meinem Kopf. Nicht, ohne sich von mir zu verabschieden. Ich eilte hinter Mama her, doch statt mich ins Eßzimmer zu begeben, ging ich in sein Büro.
Die Tür war geschlossen, und als ich sie öffnete, sah ich in ein dunkles Zimmer. Mama wartete in der Eingangshalle auf mich. Ich wirbelte herum, und die Tränen strömten über mein Gesicht.
»Wo ist er?«
»Ich habe es dir doch gesagt, Leigh. Er ist gegangen.«
»Aber er hat sich nicht… er hat mir keinen Abschiedskuß gegeben«, rief ich.
»Er war nicht in der Stimmung, irgend jemanden zu küssen. Und jetzt reiß dich bitte zusammen, mein Liebling. Geh dir das Gesicht waschen. Mach dich frisch. Du willst den Dienstboten doch nicht zeigen, daß du unglücklich bist, oder? Wenn du erst etwas im Magen hast, wirst du dich gleich viel besser fühlen, da bin ich ganz sicher.«
»Ich habe keinen Hunger«, rief ich und lief zur Treppe.
»Leigh!«
Ich drehte mich nicht um. Ich konnte es nicht. Ich rannte die Treppe hinauf und stürmte in mein Zimmer. Dort eilte ich ans Fenster und sah hinaus, weil ich hoffte, Daddy noch einmal vor der Haustür sehen zu können, doch die Straße war menschenleer, und die Straßenlaternen warfen lange, dunkle Schatten über die Bürgersteige.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, die ich mir gegen die Augen preßte, und dann sah ich mich in meinem Zimmer um. Ich sah all die Dinge an, die mich an Daddy erinnerten, sah sein Bild an, sah die Schiffsmodelle an. Es war aus. Das Leben, das ich gekannt hatte, war vorüber und in die menschenleere Nacht übergegangen, die draußen auf der Straße herrschte.
Daddy benutzte immer eine Redewendung, wenn er jemanden kennenlernte, vor allem, wenn es jemand war, der ihm gefiel.
»Wir wollen nicht wie zwei Schiffe sein, die in der Nacht aneinander vorbeifahren. Rufen Sie an. Kommen Sie vorbei.«
O Daddy, dachte ich, werden wir jetzt wie zwei Schiffe sein, die in der Nacht aneinander vorbeifahren?
Ein Tag folgte dem nächsten. Ich ging wieder zur Schule und erzählte all meinen Freundinnen von meiner Jamaikareise. Alle interessierten sich für meine Geschichten über Fulton und Raymond, und eine Woche nach meiner Rückkehr bekam ich einen netten Brief von Raymond. Ich nahm ihn in die Schule mit, um ihn meinen Freundinnen zu zeigen, vor allem denen, die skeptische Mienen aufgesetzt hatten, als ich ihnen von den älteren Jungen erzählt hatte.
Raymonds Brief drehte sich vorwiegend um seine Schularbeiten, aber er schrieb auch, wie sehr er die Zeit mit mir genossen hatte, und er hatte den Brief mit »Herzlichst Raymond« unterschrieben.
Gegen Ende der ersten Woche rief Daddy an, um mir von seinen Plänen für die nächste Reise zu erzählen. Im Hintergrund war viel Trubel in seinem Büro zu hören, und obwohl es nur ein kurzes Gespräch war, wurden wir mehrfach unterbrochen. Er sagte, er würde versuchen, sobald er die Kanarischen Inseln erreicht hatte, zu schreiben oder anzurufen. Oh, wie sehr ich ihn doch vermißte, und welche Anstrengung es mich kostete, Mama nicht dafür zu hassen, daß sie ihn aus meinem Leben vertrieben hatte.
Einige Abende später kam Mama in mein Zimmer, um mir anzukündigen, daß wir nach Farthinggale Manor fahren würden, um dort das Erntedankfest zu feiern.
»Das wird das prächtigste Erntedankfest, das wir je erlebt haben. Viele von Tonys wohlhabenden Freunden werden dort sein, und er hat sogar Patrick und Clarissa Darrow eingeladen, die Verleger meiner Illustrationen, und natürlich Elizabeth Deveroe, die Innenarchitektin, und ihren Mann, damit auch Leute dort sind, die wir schon kennen. Ist das nicht nett von ihm?«
»Aber wir haben das Erntedankfest doch immer hier gefeiert, Mama.« Bis zu diesem Moment war ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, Daddy könnte nicht nach Hause kommen, um das Erntedankfest mit uns zu feiern. Das wäre das erste Mal gewesen, denn ganz gleich, wohin seine Geschäfte ihn führten oder was er gerade zu tun hatte – es war ihm immer gelungen, zum Erntedankfest zu Hause zu sein.
»Ich weiß, aber ich will bei Tony sein, und er gibt jedes Jahr ein riesiges Fest. Es wird Fasan geben und nicht Truthahn wie
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