Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
alt genug war, um ihr Großvater zu sein«, sagte die eine. »Ich habe gehört, er ist schon senil, dieser Greis, und ihm ist gar nicht klar, daß sie ihn verlassen hat.«
»Der einzige Grund, aus dem eine solche Frau einen so alten Mann heiratet, ist das Geld.«
»Na, um Geld braucht sie sich jetzt jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen«, sagte die erste Frau. »Und jetzt hat sie noch dazu einen blendend aussehenden Mann. Ganz schön gerissen, diese Frau.« Sie lachten beide und stiegen in ihren Wagen.
Trotz der Kälte und des Schneefalls glühte mein Gesicht vor Zorn. Ich wäre am liebsten zu dem Wagen gelaufen und hätte gegen die Scheiben gepocht. Sie machten sich über meinen Vater lustig. Wie konnten sie das wagen? Wer hatte ihnen bloß eine solche Geschichte erzählt? Sie hatten es nicht verdient, zur Hochzeitsgesellschaft eingeladen zu werden. Eifersüchtige, neidische, gehässige Klatschmäuler…
»Komm schon, Leigh«, sagte Troy und zog mich voran.
»Was? Ach so, ja.« Ich folgte ihm und drehte mich noch einmal um, um den Wagen abfahren zu sehen.
Wir blieben am Eingang des Irrgartens stehen.
»Ich sehe keine abgeschnittenen Zweige, Troy. Laß uns umkehren.«
»Nein, es gibt immer welche. Wir gehen ein Stückchen weiter hinein und suchen danach, einverstanden?« bettelte er.
»Dein Bruder will nicht, daß wir in den Irrgarten gehen, Troy.«
»Das geht schon in Ordnung. Ich weiß, wie ich rein und wieder raus komme.«
»Ist das wahr?« Manchmal wirkte er so reif für einen kleinen Jungen, so selbstsicher.
»Tony wird schon nicht wütend. Tony wird doch jetzt dein Daddy.«
»Nein, das wird er ganz bestimmt nicht«, fauchte ich. Der kleine Troy blickte bestürzt auf. »Er heiratet meine Mutter, aber das macht ihn noch lange nicht zu meinem Daddy. Ich habe einen Daddy.«
»Wo ist er?« fragte Troy und zog seine kleinen Schultern hoch.
»Er arbeitet mit großen Schiffen, und er ist auf dem Meer.«
»Kommt er auch her?«
»Nein. Meine Mutter will nicht mehr mit ihm zusammenleben. Sie will mit deinem Bruder zusammenleben, und deshalb wohnen wir hier. Mein Vater wohnt woanders. Man nennt das eine Scheidung, wenn Leute, die verheiratet sind, aufhören, verheiratet zu sein. Verstehst du das?«
Er schüttelte den Kopf.
»Um dir die Wahrheit zu sagen«, sagte ich bitter, »ich verstehe es auch nicht.« Ich sah mich wieder nach dem Haus um. Eine Schar von Tonys Freunden kam aus dem Haus; sie lachten und klopften einander auf die Schultern. »Einverstanden«, sagte ich. »Wir gehen in den Irrgarten und suchen nach abgeschnittenen Zweigen von der Hecke. Wir können uns ohnehin nicht verlaufen«, fügte ich hinzu, »weil wir im Schnee unsere eigenen Fußspuren zurückverfolgen können.«
»Das stimmt.« Er stürzte sich vor mir in den Irrgarten. Ich zögerte einen Moment, ehe ich ihm folgte.
Die feierliche Stille des Irrgartens tat mir wohl. Ich wollte von all diesem Lärm und Trubel nichts mehr wissen. Ich war sehr gereizt; mein Magen rebellierte, und mein Herz klopfte heftig.
Als wir in den Irrgarten einbogen und tiefer und immer tiefer in sein Herz vordrangen, wich die Welt außerhalb weiter und immer weiter zurück. Die hohen Hecken schnitten uns von den Geräuschen außerhalb ab. Die Schneeflocken, die ständig dichter fielen, wehten in die Gänge zwischen den Hecken und blieben an den Ästen hängen. Troy lief voran und sah sich um, um sich zu vergewissern, daß ich ihm noch folgte. Ich verlor jeden Überblick, jede Orientierung, und hatte keine Ahnung, wie oft wir schon in einem scharfen rechten Winkel abgebogen waren. Ein Gang sah wie der andere aus, vor allem jetzt, als sich eine frische Schneedecke über alles legte. Ich war froh, daß wir durch den Schnee liefen, denn jetzt verstand ich, wie leicht man sich hier verlaufen konnte. Der Irrgarten war wirklich groß.
»Troy«, rief ich schließlich. »Wir sollten lieber umkehren. Hier sind keine gestutzten Hecken, und ich glaube, wir laufen ständig im Kreis.«
»Nein, das tun wir nicht. Wir laufen zu dem Häuschen.«
»Was für ein Häuschen? Wer wohnt dort?«
»Im Moment niemand. Es ist einer meiner geheimen Plätze«, flüsterte er.
»Wir sollten lieber nicht versuchen, es zu finden«, warnte ich.
»Nur noch ein kleines bißchen weiter, bitte. Bitte, Leigh«, flehte er mich an.
»Meinetwegen«, sagte ich. »Wir laufen noch ein kleines Stückchen weiter, aber wenn wir es dann nicht gefunden haben, müssen wir umkehren,
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