Catch 22
einzuführen und an die Angehörigen der Gefallenen vorgedruckte Briefe zu verschicken. Der Kaplan nahm seine eigene Unzulänglichkeit als gegeben hin und war darüber verzweifelt. Seit Wochen schon beabsichtigte er, mit Korporal Whitcomb ein Gespräch von Mann zu Mann zu führen, um herauszubekommen, was jenem solches Unbehagen schuf, doch schämte er sich jetzt schon dessen, was er dabei zu hören bekommen mochte.
Korporal Whitcomb lachte draußen schadenfroh, der andere kicherte. Gefährliche Sekunden hindurch überrieselte den Kaplan die gespenstische okkulte Überzeugung, schon früher oder in einer früheren Existenz in genau dieser Lage gewesen zu sein. Er mühte sich, diesen Eindruck zu erhäschen und festzuhalten, um fähig zu sein, das nächste Ereignis vorherzusagen oder vielleicht sogar zu bestimmen, doch seine Eingebung zerschmolz wirkungslos, genauso wie er es vorher gewußt hatte. Dejä vu. Die subtile, wiederkehrende Vermengung von Illusion und Wirklichkeit, die typisch war für Erinnerungstäuschungen, fesselte den Kaplan, und er wußte etliches darüber. Zum Beispiel wußte er, daß man diese Erscheinung Paramnesie nannte, und er interessierte sich auch für solche Begleitphänomene optischer Natur wie jamais vu, nie gesehen, und presque vu, beinahe gesehen. Er durchlebte gräßliche Augenblicke, da Gegenstände, Begriffe und selbst Menschen, die der Kaplan so gut wie sein Leben lang gekannt hatte, auf unerklärliche Weise ein unbekanntes und ungewohntes Aussehen annahmen, wie es ihm nie zuvor begegnet war, das sie ihm völlig fremd machte: jamais vu. Und es gab andere Augenblicke, in denen er beinahe die absolute Wahrheit in blendender Klarheit erblickte: presque vu. Die Episode mit dem nackten Mann im Baum bei Snowdens Beerdigung war ihm immer noch ein undurchdringliches Geheimnis. Dejä vu war es nicht, denn er hatte nicht das Empfinden gehabt, je zuvor bei Snowdens Beerdigung einen nackten Mann im Baum gesehen zu haben. Jamais vu war es auch nicht, denn die Erscheinung glich nicht jemandem oder einem Ding, das bekannt war, jedoch in unbekannter Verkleidung auftrat, und presque vu war es bestimmt nicht, denn der Kaplan hatte ihn wirklich gesehen.
Unmittelbar vor dem Zelt sprang knatternd der Motor eines Jeep an, der sich gleich darauf aufheulend entfernte. War der nackte Mann im Baum bei Snowdens Beerdigung eine Halluzination gewesen? War er eine Offenbarung gewesen? Schon bei dem Gedanken hieran geriet der Kaplan ins Zittern. Es drängte ihn, sich Yossarián anzuvertrauen, doch immer, wenn er den Vorfall bedachte, beschloß er, nicht weiter darüber nachzudenken, so daß er nun, da er ernstlich darüber nachdachte, nicht mit Gewißheit sagen konnte, ob er je wirklich darüber nachgedacht hatte.
Korporal Whitcomb kam wieder hereingeschlendert, ein funkelnagelneues, widerliches Grinsen im Gesicht, und lümmelte sich frech gegen den Zeltpfahl.
»Möchten Sie gerne wissen, wer der Bursche im Schlafrock war?«
fragte er prahlerisch. »Es war ein CID-Mensch mit Nasenbeinbruch. Er ist dienstlich aus dem Lazarett hergekommen. Er führt eine Untersuchung.«
Der Kaplan sah hastig auf, bekümmert und voller Mitgefühl.
»Ich hoffe, Sie sind nicht in Schwierigkeiten. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Nein, nicht ich bin in Schwierigkeiten«, erwiderte Korporal Whitcomb grinsend, »sondern Sie. Man wird Sie am Kanthaken kriegen, weil Sie alle die Washington Irving unterzeichneten Briefe mit Washington Irving unterschrieben haben. Wie finden Sie das?«
»Ich habe keinen einzigen Brief mit Washington Irving unterzeichnet«, sagte der Kaplan.
»Mich brauchen Sie nicht anzuschwindeln«, versetzte Korporal Whitcomb. »Ich bin nicht derjenige, den Sie von Ihrer Unschuld überzeugen müssen.«
»Aber ich lüge nicht.«
»Es ist mir egal, ob Sie lügen oder nicht. Man wird Sie außerdem am Kanthaken kriegen, weil Sie Major Majors Post unterschlagen haben. Ein großer Teil davon ist nur für den Dienstgebrauch bestimmt.«
»Welche Post?« sagte der Kaplan kläglich und immer gereizter.
»Ich habe Major Majors Korrespondenz überhaupt nie gesehen.«
»Mich brauchen Sie nicht anzuschwindeln«, erwiderte Korporal Whitcomb. »Ich bin nicht derjenige, den Sie von Ihrer Unschuld überzeugen müssen.«
»Aber ich lüge nicht!« wehrte sich der Kaplan.
»Ich weiß nicht, weshalb Sie mich anbrüllen müssen«, sagte Korporal Whitcomb gekränkt. Er stieß sich vom Zeltpfahl ab und wies nachdrücklich mit dem
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