Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Catch 22

Catch 22

Titel: Catch 22 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Heller
Vom Netzwerk:
entschuldigen, daß er ihn so zugerichtet hatte. Yossarián war es richtig übel; er konnte es kaum ertragen, Natelys zerschlagenes Gesicht anzusehen, obwohl der Anblick gleichzeitig so komisch war, daß er Lust fühlte, laut herauszulachen. Dunbar betrachtete solche Sentimentalitäten mit Abscheu, und alle drei waren erleichtert, als Hungry Joe unerwartet mit seiner komplizierten schwarzen Kamera hereingestürzt kam. Er mimte Blinddarmentzündung, um sich nahe bei Yossarián halten und ihn photographieren zu können, wenn er Schwester Duckett tätschelte. Er wurde aber geradeso enttäuscht wie Yossarián. Schwester Duckett hatte nämlich beschlossen, einen Arzt zu heiraten — irgendeinen Arzt, denn sie verdienten alle so herrlich viel Geld — und wollte kein Risiko unter den Augen jenes Mannes eingehen, der vielleicht eines Tages ihr Gatte sein würde. Hungry Joe war wütend und untröstlich, bis plötzlich — ausgerechnet! — der Kaplan ' in einem dunkelbraunen Schlafrock hereingeführt wurde. Der Kaplan strahlte wie ein unterernährter Leuchtturm das Grinsen einer Selbstzufriedenheit aus, die zu gewaltig war, um ganz verborgen werden zu können. Der Kaplan war mit Herzbeschwerden ins Lazarett aufgenommen worden, die nach Meinung der Ärzte von Blähungen herrührten; außerdem litt er an einem akuten Fall von Wisconsenitis. »Was, um Gottes willen, ist denn Wisconsenitis?« fragte Yossarián.
    »Genau das wollten die Ärzte auch wissen!« platzte der Kaplan stolz heraus und brach in ein Gelächter aus. Niemand hatte ihn je so glücklich, so schalkhaft gesehen. »Ja begreift ihr denn nicht, daß es Wisconsertitis überhaupt nicht gibt? Ich habe gelogen. Ich habe mich mit den Ärzten geeinigt. Ich habe ihnen versprochen, daß ich es ihnen sagen würde, wenn die Wisconsenitis vorbei ist, vorausgesetzt, daß sie nichts unternehmen, um diese Krankheit zu heilen. Ich habe noch nie zuvor gelogen. Ist das nicht herrlich?«
    Der Kaplan hatte gesündigt, und das war gut. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß es Sünde war, zu lügen und sich der Erfüllung seiner Pflichten zu entziehen. Andererseits aber wußte jeder, daß Sünde böse war, und daß aus Bösem nichts Gutes entstehen kann. Und doch fühlte er sich sehr gut; er fühlte sich geradezu wunderbar. Und daraus folgte nun wieder logisch, daß es keine Sünde sein konnte, zu lügen und sich der Erfüllung seiner Pflichten zu entziehen. In einem Augenblick göttlicher Eingebung hatte der Kaplan die Technik der Abwehr durch Rationalisierung entdeckt, und diese Entdeckung erfüllte ihn mit Jubel.
    Es war ein Wunder. Er begriff nun, daß fast nichts dazu gehörte, Sünde in Tugend und üble Nachrede in Wahrheit zu verkehren, daß es leicht ist, Kraftlosigkeit als Enthaltsamkeit, Anmaßung als Demut, Raub als Menschenfreundlichkeit, Betrug als Ehrenhaftigkeit, Lästerung als Weisheit, Roheit als Vaterlandsliebe und Sadismus als Gerechtigkeit hinzustellen. Das konnte jeder. Verstand war dazu nicht erforderlich, einzig Charakterlosigkeit. Der Kaplan betete mit sprudelnder Behendigkeit das gesamte Register der orthodoxen Sünden ab, während Nately stolzgeschwellt im Bett saß und verblüfft zur Kenntnis nahm, daß er der Mittelpunkt dieser Bande lustiger Gesellen war. Er war geschmeichelt, aber auch ängstlich, denn er erwartete mit Gewißheit das Erscheinen einer strengen Amtsperson, die alle seine Freunde rücksichtslos wie eine Schar Landstreicher vor die Tür setzen würde. Niemand belästigte sie. Am Abend trabten alle fröhlich hinaus, um ein gräßliches Hollywoodprodukt in Farben zu sehen, und als sie nach Betrachtung des gräßlichen Hollywoodproduktes fröhlich wieder hineintrabten, war der Soldat in Weiß da, und Dunbar bekam einen Schreikrampf.
    »Er ist wieder da!« kreischte Dunbar. »Er ist wieder da! Er ist wieder da!«
    Yossarián erstarrte, gelähmt von Dunbars gespenstischem Kreischen und dem vertrauten, weißen, morbiden Anblick des Soldaten in Weiß, der von Kopf bis Fuß in Gipsverbände eingehüllt war. Yossariáns Kehle entrang sich unwillkürlich ein sonderbarer, quäkender Laut.
    »Er ist wieder da!« kreischte Dunbar von neuem.
    »Er ist wieder da!« echote mechanisch ein Patient, der von Fieberphantasien geplagt wurde.
    Ganz plötzlich geriet die Station aus dem Häuschen. Kranke und verwundete Männer begannen unverständlich zu schreien und im Gang zwischen den Betten hin und herzulaufen, als stehe das Gebäude in Flammen. Ein

Weitere Kostenlose Bücher