Catch 22
man ihm aber Manieren beigebracht. Man konnte den Tod nicht fernhalten, doch solange er drinnen war, hatte er sich anständig zu benehmen. Hier spürte man nichts von jener rohen, häßlichen Aufdringlichkeit des Sterbens, die außerhalb des Lazarettes so häufig anzutreffen war. Wer im Lazarett lag, explodierte nicht mitten in der Luft wie Kraft oder der tote Mann in Yossariáns Zelt, er fror auch nicht an einem heißen Sommertag zu Tode, wie sich Snowden zu Tode gefroren hatte, nachdem er vor Yossarián im Heck der Maschine sein Geheimnis enthüllt hatte.
»Mir ist kalt«, hatte Snowden geklagt. »Mir ist kalt.«
»Nun, nun«, hatte Yossarián versucht, ihn zu beruhigen. »Nun, nun.« Im Lazarett verschwand man nicht einfach auf geisterhafte Weise in einer Wolke, wie Clevinger das getan hatte. Man verspritzte sich nicht als blutiges Geklumpe in die Gegend. Man ertrank nicht, wurde nicht vom Blitz getroffen, von Maschinen zermalmt oder unter Lawinen begraben. Man wurde nicht bei Raubüberfällen erschossen, von Sexualverbrechern erwürgt, in Kneipen erstochen, mit einer Axt von den Eltern oder Kindern erschlagen oder durch einen anderen göttlichen Gewaltakt vom Leben zum Tode befördert. Niemand erstickte. Man starb vornehm auf dem Operationstisch, oder hauchte kommentarlos unter einem Sauerstoffzelt seinen Geist aus. Hier gab es nicht das neckische Versteckspiel jetzt siehst-du-mich-und-jetzt-nicht-mehr, das außerhalb des Lazarettes so beliebt war, nichts von Kuckuck-hier-bin-ich-nicht-mehr. Es gab keine Hungersnot und kein Hochwasser. Kinder erstickten nicht in Wiegen oder Kühlschränken, sie fielen auch nicht von Lastwagen. Niemand wurde zu Tode geprügelt. Man steckte den Kopf nicht in den Gasherd, warf sich nicht vor die U-Bahn und kam auch nicht wie ein Bleiklumpen schschsch mit einer Beschleunigung von sechzehn Fuß pro Sekunde aus dem Hotelfenster gestürzt, um mit gräßlichem Platsch auf dem Bürgersteig zu landen und vor aller Augen einen widerwärtigen Tod zu sterben, wie ein mit haarigem Erdbeereis gefüllter Baumwollsack, blutend und mit abgespreizten, rosigen Zehen.
Alles in allem zog Yossarián es oft vor, im Lazarett zu sein, obgleich auch das Nachteile hatte. Das Personal neigte dazu, sich aufzuspielen, die Hausordnung war, wenn man sie befolgte, einengend, und die Geschäftsleitung zudringlich. Da mit der Anwesenheit von Kranken gerechnet werden mußte, konnte Yossarián sich nicht darauf verlassen, daß auf seiner Station lebhaftes, junges Volk um ihn sein werde, und die Unterhaltung hatte nicht immer genügend Niveau. Er mußte zugeben, daß die Lazarette sich im Laufe des Krieges und in dem Maße, in dem man sich der Front näherte, verschlechtert hatten, wobei die mindere Qualität der Gäste am stärksten unmittelbar im Frontbereich zu spüren war, wo überhaupt die Folgen der durch den Krieg hervorgerufenen Hochkonjunktur sich am auffälligsten zeigten. Je näher er der Front kam, desto kränker wurden die Patienten, bis er schließlich bei seinem letzten Aufenthalt im Lazarett auf den Soldaten in Weiß gestoßen war, der nicht kränker hätte sein können, ohne zu sterben, was er denn ja auch bald genug tat.
Der Soldat in Weiß bestand ausschließlich aus Mull, Gips und einem Thermometer. Das Thermometer war nichts als eine Verzierung, die auf dem Rand des klaffenden, schwarzen Loches in den Bandagen über seinem Mund balancierte, wohin es jeden Morgen in der Frühe und spät am Nachmittag von Schwester Gramer oder Schwester Ducke« gelegt wurde, bis Schwester Gramer eines Nachmittags beim Ablesen des Thermometers bemerkte, daß der Patient gestorben war. Wenn Yossarián daran dachte, wollte es ihm vorkommen, als habe doch Schwester Gramer den Soldaten in Weiß ermordet, und nicht der geschwätzige Texaner; hätte sie nicht das Thermometer abgelesen und über das Resultat berichtet, so läge der Soldat in Weiß vielleicht immer noch genauso lebendig da wie zuvor, von Kopf bis Fuß in Mull und Gips gehüllt, die befremdlich steifen Beine von den Hüften an gehoben, die befremdlichen Arme senkrecht hochgestreckt, alle vier sperrigen Gliedmaßen in Gips, alle vier befremdlichen unbrauchbaren Gliedmaßen von straffen Drähten und phantastisch langen Bleigewichten in der Luft gehalten. So dort zu liegen, mochte kein großartiges Leben sein, aber ein anderes Leben besaß der Soldat in Weiß eben nicht, und Yossarián fand, daß die Entscheidung, es zu beenden, Schwester Gramer eigentlich
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