CATCH - Stunden der Angst: Thriller (German Edition)
hob den Kopf und sah Dan endlich in die Augen. »Du bist zugleich ein Bruder, ein Onkel und ein Vater für mich. Da bleibt nicht viel Platz für so was wie ’ne Freundschaft zwischen uns, oder?«
Dan sah ihn betroffen an. »So hab ich das noch nie gesehen.«
»Also, ich mein halt … Wenn ich heute so zurückschaue, kann ich dich nur bewundern. Ich war zwei Jahre alt, als sie gestorben sind, ich hab ja überhaupt nichts mitgekriegt. Und du warst erst vierzehn, aber du hast von einem Tag auf den anderen diese … diese riesige Verantwortung aufgehalst bekommen.« Seine Stimme war so belegt, dass die Worte kaum zu verstehen waren. Er räusperte sich und kommentierte seine Verlegenheit mit einem schiefen Grinsen. »Und trotzdem bist du damit fertiggeworden. Du hast Mutter und Vater verloren und bist über Nacht zu meinem Ersatzvater geworden, und ich hab dich nicht ein einziges Mal jammern hören. Verglichen mit dir bin ich nur ein dummer kleiner Rotzbengel.«
»Nein, Louis. Niemand sieht dich so.« Dan trat auf seinen Bruder zu und schloss ihn in die Arme, und während sie sich umfasst hielten, glaubte er, es müsse ihm das Herz zerreißen, wenn er an den himmelweiten Unterschied zwischen Louis’ Bild von ihm und der bitteren Realität dachte.
Dann löste Louis sich von ihm und gestikulierte verzweifelt, während er nach Worten für seine inneren Qualen suchte.
»Wir haben unsere Eltern verloren, Dan. Das ist so unfair, dass ich schreien könnte. Es ist immer da. Ich kann es in mir drin spüren, und es ist wie … es ist, als ob da ein Wahnsinniger durch meine Lungen atmet. Und das Geniale am Alkohol ist, dass ich das nicht mehr spüre, wenn ich besoffen bin. Dann muss ich für eine Weile nicht schreien.«
Dan nickte. »Ich kann das verstehen.«
»Wirklich? Wie kommst du eigentlich so gut damit zurecht?«
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich so toll damit zurechtkomme.«
»Es sieht für mich aber so aus.«
»Der Schein kann trügen. Ehrlich, Louis, ich hab dieses Lob nicht verdient …« Jetzt musste Dan mit den Tränen kämpfen. Er spürte einen wütenden Schmerz in seinen Eingeweiden, und das Gefühl mündete in eine plötzliche Entschlossenheit.
Steh dazu. Sei ein richtiger Mann und sag es ihm.
»Ich bin ein miserables Vorbild, wenn du die Wahrheit wissen willst.«
Louis trat einen Schritt zurück, als könne er nicht glauben, was er da hörte. »Wieso sagst du das?«
»Weil …« Dan schluckte. Das war noch schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. »Weil ich ganz große Scheiße gebaut habe. Neulich abends …«
Es war das Klappern von Absätzen, das seine Aufmerksamkeit auf ein Geräusch lenkte, das er nur am Rande registriert hatte: das Brummen eines Motors im Leerlauf draußen auf der Straße. Der Bewegungsmelder am Nachbarhaus sprang an, und plötzlich kam Joan die Einfahrt hinaufgeeilt.
»Na, ihr habt euch aber ein lauschiges Plätzchen ausgesucht. Was habt ihr denn gegen das Wohnzimmer?«
Ihre Wangen waren gerötet, und sie strahlte eine Art von mühsam unterdrückter Euphorie aus. Obwohl Louis sich zu ihr umdrehte, um zu antworten, konnte Dan spüren, dass sein Bruder immer noch gespannt auf seine Enthüllung wartete.
»Ja, verrückt, nicht?«, sagte Louis. »Geh doch schon mal rein, wir kommen gleich nach.«
Er drehte sich wieder zu Dan um, doch Joan rührte sich nicht von der Stelle. Dan murmelte rasch: »Hayley und ich haben Stress.«
»Was heckt ihr Burschen da aus?«
»Nichts«, sagte Louis, und sein Blick zuckte unsicher zwischen den beiden hin und her.
Er glaubt mir nicht , dachte Dan. Aber er wusste, dass der Moment für das Geständnis vorüber war. Und ganz sicher war er, als Joan seinen Arm packte und fest drückte, vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. »Ron hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehe«, flüsterte sie. »Und ich habe Ja gesagt!«
52
Stemper verabschiedete sich um elf Uhr abends von den Blakes. Er hatte einige Zeit damit verbracht, über die Immobilienfirma zu recherchieren. Auch hatte er alle Informationen eingeholt, die er brauchte, um das Problem Jerry Conlon aus der Welt zu schaffen, wohl wissend, dass ihm keine Fehler unterlaufen durften.
Er hatte die Blakes darauf aufmerksam gemacht, dass Jerry aufgrund seiner direkten Verbindung zu ihnen eine reale Bedrohung darstellte, und zwar sowohl tot als auch lebendig.
Bevor er nach Brighton zurückkehrte, machte Stemper einen Abstecher nach London. Teils, um Erkundigungen anzustellen, teils, um
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