Chaosprinz Band 1
interessierte ich mich nur für Fußball und mein Mountainbike und Marc versteckte sich die ganze Zeit hinter seinen Büchern oder er half Ludwig im Laden.«
»Wir lebten in zwei völlig verschiedenen Welten…«, ergänzte Marc leise.
Ich spürte einen komischen Stimmungsumschwung, das Schweigen war plötzlich unangenehm. Ein bisschen verwirrt blickte ich wieder auf die vielen Fotos, die wild verstreut auf dem Holzboden herumlagen, und überlegte krampfhaft, wie ich die Situation wieder etwas auflockern könnte, als mir zwischen all den bunten Gesichtern eines auffiel, das ich wiedererkannte.
»Oh mein Gott, das ist doch Jens, oder?« Ich hielt das Foto in die Höhe und drehte es so, dass Manu und Marc es besser sehen konnten.
»Ja.« Marc nickte. »Jens ging auch mit uns in eine Klasse, wir kennen ihn schon seit einer halben Ewigkeit.«
»Er sah gut aus. Ich meine, er sieht immer noch gut aus…« Ich betrachtete den Vierzehnjährigen auf dem Foto genauer. Er grinste frech, seine grünen Augen blitzten und das braune Haar fiel ihm wild ins Gesicht. Seinen Arm hatte er um Marc gelegt, der mit ernster Miene neben ihm stand.
»Wart ihr schon damals befreundet?«, fragte ich Marc.
»Ja, er war so ziemlich mein einziger Freund. Er hat mich immer verteidigt, wenn einer der Typen aus unserer Klasse mich verprügeln wollte… Überhaupt war Jens ständig in irgendwelche Schlägereien verwickelt.«
Sie erzählten mir noch die ein oder andere Geschichte aus ihrer Jugend, wir tranken noch mehr Wein und am Ende dieses Abends war ich ziemlich glücklich und ziemlich beschwipst.
Hm, was habe ich letzte Woche sonst noch so gemacht? Ach ja, ich hatte meinen allerersten richtigen Arbeitstag in Ludwigs Laden. Ludwig erklärte mir alles. So erfuhr ich, wie und wo er seine Bücher bestellt, nach welchen Kriterien er das Sortiment geordnet hat, wie man mit dem Computer umgeht, welche Trends, Verlage und Neuheiten es in der Welt der Bücher gibt, wie die Kasse funktioniert und welche Wünsche und Eigenheiten die verschiedenen Kunden zeitweise haben können. Als ich abends nach Hause kam, war mein Kopf vollgestopft mit Informationen und mein Bauch mit Keksen.
Sonst verbrachte ich viel Zeit mit Lena, Elena und Martin. Wir machten ein Picknick im Englischen Garten, besuchten den Zoo und fuhren mit den Fahrrädern an der Isar entlang. Wie sich herausstellte, waren Martins Ängste und Befürchtungen völlig umsonst gewesen. Sein Vater schien sogar der Meinung zu sein, dass die Anwesenheit der Polizei die Geburtstagsfeier sozusagen ausgezeichnet hätte: Die wildeste und spektakulärste Party des Jahres! Und egal, wie viel dabei zu Bruch gegangen war, Hauptsache, die Leute werden über diese Nacht sprechen und sein Sohn wird als der Partykönig schlechthin bekannt werden.
Wegen dem zerbrochenen Meißner Porzellan gab es natürlich trotzdem viele Tränen und eine Menge Geschrei, doch das war ja zu erwarten gewesen. Unser kleiner Schaffner hat dafür einen Ehrenplatz bekommen. Er steht ganz vorne auf dem Gleis Nummer eins und schaut den abfahrenden Zügen nach, die Trillerpfeife immer an den winzigen, aufgemalten Lippen.
Elenas Augen strahlten, als Martin uns davon erzählte.
Ich fühle mich wohl mit Elena, Martin und Lena. Sie lenken mich ab, lenken mich ab von den wirren Gedanken, die mich sofort anfallen, wenn ich mal zwei Minuten allein bin. Gedanken an Hamburg, daran, was meine Freunde dort wohl gerade machen. Gedanken an Ma und ihre afrikanischen Schulkinder. Gedanken an Joachim und Bettina und daran, ob ich wohl jemals ein Teil ihrer Familie sein werde, ob sie mich wohl jemals lieben werden… Und natürlich Gedanken an Alex.
Er taucht in meinen Träumen auf, fast jede Nacht. Zu Beginn hat er eigentlich nie viel an und am Ende ist er immer nackt. Ich weiß nicht, wie oft ich in der letzten Woche stöhnend mit einem Ständer in der Schlafanzughose aufgewacht bin… Frustriert und traurig wanderte meine Hand dann immer wie von selbst zwischen meine Beine und mit geschlossenen Augen holte ich mir einen runter, während ich dabei sein Gesicht vor mir sah.
Ich reibe mir mit der flachen Hand über die Augen, massiere kurz meine Schläfen. Ich bin nervös. Neue Schule bedeutet ja immer eine riesengroße Veränderung und viel Druck. Lehrer, die man nicht kennt, Unterrichtsmethoden, die einem fremd sind, Hierarchiestrukturen, mit denen man sich vertraut machen muss, neue Leute, die einen mustern und prüfen, abschätzen und
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