Chaosprinz Band 1
gefragt…
Ich bin ein schlechter Mensch, ein ganz, ganz schlechter Mensch…
Das flaue Gefühl in meinem Magen wird größer, dicker, schwerer und verwandelt sich in einen mittelgroßen Felsbrocken. Er drückt in meinem Bauch, tut weh. Mir wird schlecht. Ich will zu Noresund und Elena. Elena schimpft nie mit mir und Noresund nur ganz selten…
»Ja, ja, Marc, du hast gewonnen!« Ich lasse den Kopf hängen. Dunkle, lange Strähnen fallen mir in die Stirn. Irgendwo mir schräg gegenüber seufzt Ludwig kurz auf.
Dann kann ich Marc spüren, der ein paar Exemplare von Günter Grass zur Seite schiebt, um sich nun dicht neben mir auf der Biografie von Oliver Kahn niederzulassen. Er murmelt ein bisschen mürrisch vor sich hin, als er seinen linken Arm um meine Schultern legt und mich vorsichtig an sich drückt. Ich lasse es ohne Widerstand geschehen und lehne mich etwas an ihn.
»Ich sage das doch nicht, um dir wehzutun, dich zu beleidigen oder um dich zu ärgern. Es ist nur, Tobi, du kommst hier in eine funktionierende Familie –«
»Bei denen funktioniert gar nichts...«, unterbreche ich ihn nörgelnd.
»Ich sagte, sie funktioniert, von gut oder schlecht war nie die Rede. Sie funktionieren, weil sie eine gewisse Routine haben, einen Alltag, eine gemeinsame Vergangenheit. Du bist ein Außenstehender, ein Fremder… ein Eindringling. Ich weiß, du willst niemandem was Böses, aber stell dir mal vor, irgendein Typ wäre zu dir und deiner Mutter gezogen. Von heute auf morgen hätte sich dein gesamtes Leben verändert!«
»Aber…« Mein Lieblingswort. Viel weiter komme ich leider selten… mangels guter Argumente…
»Nix aber!«, tadelt mich Marc und kneift mich dabei ein bisschen in den Oberarm.
»Autsch!«
»Tobi, du hast recht, sie müssten eigentlich einen Schritt auf dich zugehen, aber das Leben ist nicht fair und es läuft definitiv nicht immer so, wie es sollte. Wenn du ihnen näherkommen willst, dann musst du es sein, der den ersten Schritt macht, und vielleicht auch den zweiten und dritten.«
»Gib ihnen etwas mehr Zeit. Aber gib vor allem dir selbst noch Zeit.« Ludwig schaut mir durch seine großen, runden Brillengläser in die Augen. »Du setzt dich selbst viel zu sehr unter Druck. Vertrauen, Respekt und Freundschaft müssen sich entwickeln. Und Liebe erst recht.«
Ich nicke. Okay, hab's kapiert! Marc strubbelt mir grob durchs Haar und Ludwig hält mir die blaue Keksdose unter die Nase.
***
Es geht mir jetzt besser, irgendwie. Noch nicht richtig gut, aber schon besser. Ich schaue Marc und Manu nach. Sie haben mich gerade zu Hause abgesetzt. Es war noch ein wirklich schöner Nachmittag.
Janosch, Uwe, Jens und Manu sind in ihren Mittagspausen vorbeigekommen. Wir haben herrlich fettiges, chinesisches Essen vom Schnellimbiss um die Ecke gegessen und die Jungs haben mir lustige und peinliche Geschichten erzählt. Die meisten haben von durchgefeierten Nächten im Zorro gehandelt. Es ist wirklich toll gewesen. Ich hab nur sehr selten an Joachim, die Familie und Alex denken müssen.
Doch nun stehe ich schon wieder vor dem Haus und traue mich nicht, den letzten endgültigen Schritt zu machen. Mein Finger schwebt über der Klingel. Einmal drücken und fertig. Die weiße Tür sieht so stabil aus, so fest, so zu… Und plötzlich steht sie sperrangelweit offen. Ich zucke ganz fürchterlich zusammen. Scheiße, hab ich mich erschreckt.
Mein Blick fällt auf einen schwarzen Pullover, sehr nah vor meiner Nase. Zögernd schaue ich nach oben. Ein schöner Hals, helle Haut, sehr weich, wie ich nun aus eigener Erfahrung weiß, der Kehlkopf springt nervös auf und ab. Das Kinn, die rosa Lippen… Wie toll sie küssen, wie sanft sie flüstern können… Die süße Nase, die ganz lieb meine anstupst… graue Augen… tief, funkelnd, leidenschaftlich… Alex.
Ich starre ihn an. Alles Blut weicht aus meinem Gesicht – leichenblass – nur, um einen Augenblick später umso heftiger in meine Wangen zu schießen – knallrot. Oh Gott! Unser erstes Treffen nach… Und ich konnte mich überhaupt nicht vorbereiten…
»Hi.« Das ist alles, wozu ich im Moment in der Lage bin.
»Hi.« Auch von ihm kommt nicht mehr.
»Hi.«
Häh? Ich blinzle kurz und starre dann den Typ an, der sich frech hinter Alex' Rücken hervorschiebt. Ich habe ihn überhaupt nicht bemerkt.
»Oh, äh… hallo.«
Der Typ grinst mich an. Sein schwarzes Haar sitzt perfekt zerzaust, die dunklen Augen blicken neugierig und er zieht interessiert eine
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