Chaosprinz Band 2
besser, wegen deiner vorübergehenden Stummheit.«
Ich verdrehe die Augen. Er lächelt und streichelt mir übers Haar.
»Sei brav, ja?« Sein Gesicht kommt näher. »Vergiss mich nicht.«
Schwachsinn, wie sollte ich ihn denn vergessen? Wie könnte ich jemals?
»Wir sehen uns bald wieder. In den Osterferien kommen wir nach Hause.«
Ostern? Ostern ist erst in tausend Jahren. Bis Ostern kann noch so viel passieren. Bis Ostern ist es noch so lang.
»Ich liebe dich.« Seine Lippen legen sich sanft auf meine.
Ich versuche, diesen Moment festzuhalten, ihn mir ganz genau einzuprägen, doch er ist so schnell zu Ende… so schnell vorbei.
Irgendjemand ruft Alex' Namen. Markus, vermute ich mal. Stimmengewirr ist zu hören. Viele Schritte, lautes Reden. Alex löst sich von mir. Wir sehen uns an. Seine grauen Augen glänzen.
»Bis dann…«
Ich kann nicht sprechen.
Er seufzt schwer und geht zur Tür. »Tschüss«, sagt er noch mal. Und zwingt sich zu einem Lächeln.
Dann ist er weg.
Ich liege einfach nur so da und warte. Ich warte darauf, dass etwas passiert. Es muss doch etwas passieren. Das kann es doch nicht gewesen sein. In den Soaps oder in den billigen Liebesfilmen kommt immer noch etwas zum Schluss. Ein Happy End. Jawohl.
In einem Hollywoodfilm hätte ich Alex jetzt bis zum Bahnhof folgen müssen. Eine dramatische Szene. Ich renne auf dem Bahngleis dem Zug hinterher, der mir gerade vor der Nase wegfährt, und breche dann vollkommen erschöpft und traurig in mich zusammen. Und als ich mich tränenverschmiert umdrehe und nach Hause schlurfen will, sehe ich Alex, der auf einer Bank sitzt und auf mich wartet. Er ist nicht gefahren. Er konnte nicht fahren. Er konnte mich nicht verlassen. Ja…
Ich liege da und warte. Ich warte darauf, dass er zurückkommt. Nach zwei Stunden höre ich die Haustür, die sich öffnet. Pa und Bettina sprechen miteinander, die Kinder stellen laute Fragen. Ich warte, starre die Tür an. Alex erscheint nicht.
Nach zwei weiteren Stunden betritt Elena das Zimmer. Sie ist besorgt, will wissen, wie es mir geht, und fragt mich, ob ich etwas essen möchte. Ich möchte nicht. Ich warte.
Es ist nun Nachmittag. Ich bekomme eine SMS von Alex: Hallo, stilles Bambi, wir steigen jetzt gerade ins Flugzeug. Ich melde mich in acht Stunden wieder. Alex.
Mein Herz schreit auf vor Schmerz und gibt schließlich den letzten Funken Hoffnung auf. Mit schweren Gliedern verlasse ich Alex' altes Zimmer und schlurfe hoch in meine alte Dachkammer.
Hier hat sich nichts verändert. Der Raum ist noch immer gemütlich, auch ohne meine Möbel. Eine Matratze und ein Schlafsack dienen mir als Bett. Auf mehr lege ich im Moment auch keinen Wert. Ich will mich einfach nur hinlegen und schlafen. Schlafen bis Ostern.
Als ich in den Schlafsack kriechen will, stoße ich mit dem Fuß irgendwo gegen. In meinem Schlafsack liegt etwas. Ich taste danach und ziehe überrascht eine große Papierrolle hervor. Sie ist mit einer roten Schleife zusammengebunden. Auf einer kleinen Karte, die an der Schleife baumelt, steht: Bambi
Ich löse das Band und rolle das Papier auseinander. Vor mir breitet sich ein weißes Plakat aus. Es ist ein Kalender. Ein selbstgemachter Kalender. Der Rand ist verziert mit vielen Zeichnungen. Großen und kleinen. Meist sind sie mit Bleistift gemalt.
Es sind Skizzen, Porträts und Karikaturen von uns. Von Pa und Bettina, den Zwillingen, Elena, Martha und Karl. Aber ich finde auch Bilder von Martin in einer kleinen Modelleisenbahn, von Maria als Freiheitsstatue verkleidet, von Gustav dem Hamster als Prinzessin verkleidet, von Tom und sogar Gwen ist zu sehen.
Und es gibt Porträts von Alex und mir. Überhaupt tauchen an allen Ecken und Enden Bilder und Skizzen von mir auf… Sie sind wunderschön. Der ganze Kalender ist wunderschön. Wie lang er wohl daran gesessen hat? Wie viel Mühe er sich gemacht hat… so viel Mühe für mich.
Und dann fallen mir die Daten auf, die bereits in den Kalender eingetragen worden sind. Ich verstehe… Ich soll die Tage zählen… die Tage, bis wir uns wieder sehen. Mein Herz klopft. Mir ist schwindelig. Ich vermisse ihn jetzt noch mehr als vorher. Ich vermisse ihn so sehr, dass mir schlecht wird.
»Tobi?« Pas Kopf taucht in der Bodenluke auf. »Warum kommst du nicht zum Essen?«
Überrascht sehe ich ihn an.
»Ich…«, krächze ich. »Ich habe keinen Hunger…«
Pa seufzt und stemmt sich durch die Luke. Er kommt langsam auf mich zu, lässt sich dann ächzend neben mir
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