Chaosprinz Band 2
obere Teil des Münchner Hauptbahnhofs ist überfüllt von Pendlern, die auf dem Weg nach Hause sind, und von Reisenden, die das Wochenende für einen kleinen Kurzurlaub nutzen wollen.
»Wie spät ist es?«, will Tom wissen.
»Zehn Minuten vor fünf«, sage ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr.
»Himmel, wir sind ja richtig pünktlich.« Tom grinst stolz.
»Kommt bei dir ja nicht allzu häufig vor«, stichle ich frech.
»Nö.« Er setzt sich auf eine Bank und schlägt die Beine übereinander.
Ich möchte mich eigentlich nicht hinsetzen. Am liebsten würde ich auf und ab gehen. Nur immer in Bewegung bleiben. Ich bin nervös. Bisher habe ich meine Aufregung gut verstecken können.
Marc hat mich gelobt, weil ich nicht die ganze Zeit über wie ein hibbeliger Teenager – O-Ton Marc – durch den Laden gehüpft bin. Dabei wäre ich gerne ein bisschen gehüpft. Und es fällt mir sehr schwer, meine Beine stillzuhalten, wenn das Herz in meiner Brust nicht aufhören kann, wie wild herumzuspringen.
Ich setze mich neben Tom. Mit beiden Armen umklammere ich die Tasche auf meinem Schoß.
»Wann kommt der ICE hier an?«, fragt Tom.
»Um siebzehn Uhr fünfunddreißig«, antworte ich.
»Dann dauert es ja noch…«
»Ja.«
Noch fünfundvierzig Minuten. Fünfundvierzig Minuten und ich sehe Alex wieder. In meinen Fingerspitzen kribbelt es. Wieder stiehlt sich dieses verträumte Lächeln auf meine Lippen, das ich schon den ganzen Tag mit mir herumtrage und gegen das ich beim besten Willen nichts tun kann.
Alex kommt zurück. Er kommt nach Hause. Er kommt zu mir. Ein halbes Jahr haben er und Maria nun mit Markus in New York gelebt. In meinen Augen war es das längste halbe Jahr, das ich jemals durchleben musste.
Am Anfang, gleich nach Alex' Abreise, dachte ich, dass ich es nicht schaffe. Ich dachte, ich gehe vor Sehnsucht und Liebeskummer zugrunde. Ich vermisste ihn so sehr.
»Ich kann ja verstehen, dass du dir wünschst, er wäre bei dir«, meinte Marc eines Tages sehr gereizt, nachdem ich ihm eine Stunde lang mein Leid geklagt hatte. »Aber, Tobi, er ist nicht tot und er hat auch nicht mit dir Schluss gemacht. Das Leben geht weiter.«
Marc hatte natürlich recht. Das Leben ging tatsächlich weiter. Ich war schockiert, als ich bemerkte, wie wenig Einfluss mein Leid auf den Lauf des Lebens hat. Die Welt hat nicht aufgehört, sich zu drehen.
Pa arbeitet in der Bank, Bettina kümmert sich um die Zwillinge, Timmy und Emma freuen sich auf ihr erstes Jahr in der Schule, Ma ruft einmal in der Woche aus Afrika an und berichtet von Gordons Fliegen, Lena unterstützt Luca bei seinem Traum von einer Musikkarriere, Martin und Elena planen einen Trip nach Puerto Rico und Tom kann stolz verkünden, dass er nun bald ein ganzes Jahr mit dem kleinen André zusammen ist – und das ganz ohne Seitensprung. Ich musste einsehen, dass es ein Leben ohne Alex geben kann. Es ist definitiv nicht so schön wie das mit ihm, aber es funktioniert trotzdem.
Wir schrieben uns viele Mails. Die meisten enthielten nur Belanglosigkeiten. Er beschrieb seinen Alltag in Amerika, ich berichtete von meinem hier in München. Er erzählte mir von gelben Taxis und ich ihm von Silvias neuem Haarschnitt. Jede Nachricht machte mich unendlich glücklich.
Alex' Mails waren oft seitenlang. Er meinte irgendwann mal, die regelmäßigen Nachrichten an mich seien für ihn eine Art Selbstreflexion und hätten fast schon den Charakter eines Tagebuchs. Das machte mich sehr glücklich.
Natürlich haben wir auch miteinander telefoniert. Bei dem Klang seiner tiefen Stimme rieselte mir jedes Mal ein Schauer wie heißes Wasser über den Rücken und ich bekam eine Gänsehaut.
Markus, Maria und Alex besuchten uns an Ostern. Die Pfingstferien verbrachten Bettina, Pa, die Zwillinge und ich in New York. Es war wahnsinnig schön, Alex wieder in den Arm nehmen zu können. Maria und er zeigten uns die Stadt.
Wir fuhren zur Statue of Liberty , besuchten das Museum of Modern Arts und betrachteten die Stadt vom Dach des Empire State Buildings .
Es war wirklich schön, sehr aufregend und wir hatten eine Menge Spaß – nur Zeit für uns, die fehlte. An Zweisamkeit war einfach nicht zu denken.
Zu Hause blieben mir dann nur seine Mails, die Telefonate und der selbstgebastelte Kalender, in den ich jeden Tag ein dickes, rotes Kreuz eintrug. Ein Kreuz für jeden Tag, der uns voneinander trennt, und ein Kreuz für jeden Tag, der uns einander wieder näherbringt.
Dann kam der Anruf. Vor
Weitere Kostenlose Bücher