Chaosprinz Band 2
den Kopf. »Mit Kim ist alles okay.« Halbwahrheiten. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Leben würde ausschließlich aus ihnen bestehen.
Alex hatte recht. Als Kim endlich aus seinem komatösen Schlaf erwachte, ging es ihm nicht sehr gut und seine Laune war beschissen. Ursprünglich wollten wir ausschlafen, gemeinsam frühstücken und anschließend aufräumen, doch weder er noch ich konnten unmöglich an diesem Plan festhalten. Kim war immer noch ziemlich betrunken und unheimlich schlecht gelaunt und ich musste einfach allein sein. Nachdenken. Zur Ruhe kommen. Durchatmen.
Ich brauchte frische Luft. In der gesamten Wohnung roch es nach Alkohol, Pizza und viel zu vielen Menschen. Ich bekam Kopfschmerzen. Schlafmangel und nagende Gedanken verschlimmerten das Pochen zwischen meinen Schläfen. Ständig musste ich an Alex denken. An unseren Kuss. Alex hat mich geküsst… oder besser gesagt: Charlie hat Léon geküsst. Es war ja nur ein Spiel. Wir waren nicht wir… oder? Ach, ich mache mir nur etwas vor!
Kim murrte unter der Decke, als ich mich von ihm verabschiedete. Ich denke, es war ihm reichlich egal, ob ich ging oder blieb. Hauptsache, ich ließ ihn in Ruhe schlafen und hörte auf, zu plappern. Fast fluchtartig habe ich die WG verlassen. Mein schlechtes Gewissen hätte ich gerne dagelassen, doch es hat mich uneingeladen begleitet.
»Was wird das denn, wenn es fertig ist?« Ich beuge mich erstaunt über die verschiedenen Lebensmittel.
»Die Pohlmanns kommen doch heute zum Essen.« Martha sieht mich ernst an.
»Oh.« Das habe ich total vergessen.
Martha lässt die Spülbürste sinken und dreht sich zu mir um. »Tobi, ich bitte dich, reiß dich heute Mittag ein bisschen zusammen.« Flehend sieht sie mich an. »Dein Vater und Bettina sind sehr besorgt…«
»Warum das denn?«, unterbreche ich sie barsch. »Denken sie, ich werde das feine Mittagessen mit den Händen essen oder ich bewerfe die alten Pohlmanns mit Apfelkuchen?« Ich bin beleidigt.
»Nein, Tobi, natürlich nicht.« Martha seufzt. »Ich verstehe dich ja. Aber ich bitte dich, versuch, ihr Verhalten und ihre Ansichten zu akzeptieren – auch wenn sie dir nicht gefallen.«
»Du meinst, ich soll klein beigeben, so wie die anderen?« Trotzig recke ich das Kinn in die Höhe.
»Menschen, Familien und Beziehungen sind unterschiedlich. Wir können sie nicht immer nachvollziehen, haben oftmals kein Verständnis für ihr Verhalten. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir uns ganz offen gegen sie stellen sollten.« Mit ernstem Gesichtsausdruck wendet sich Martha wieder ihrem Abwasch zu. Ich denke über ihre Worte nach. »Tobi, die Pohlmanns werden einen halben Tag mit euch verbringen, dann sind sie wieder weg.«
»Aber die Verletzungen und der Kummer, den sie verursachen, bleiben…« Meine Stimme zittert.
Erschrocken dreht sich Martha wieder zu mir um.
Wir sehen uns in die Augen. Sie kommt auf mich zu. Trotz ihres Alters sieht ihr Gesicht sehr weich und zart aus, die kleinen Fältchen verleihen ihm einen lebendigen, offenen und freundlichen Ausdruck. Sie lächelt mich liebevoll an. Ihre Augen glänzen.
»Du bist ein guter Junge, Tobi«, sagt sie mit warmer Stimme. »Bitte versteh mich nicht falsch, ich will doch nur die Familie schützen. Ich möchte ihnen die Kraft geben, alles auszuhalten, und du möchtest ihnen die Kraft geben, alles zu ändern.« Sie lächelt traurig. »Wenn ich nur wüsste, wer von uns beiden recht hat.«
Ich weiß es auch nicht. Unsicher zucke ich mit den Schultern. »Aber passieren muss schon was«, meine ich schließlich und sehe sie ernst an. »Wegen Markus und so…«
Martha seufzt wieder und nickt.
»Hast du schon mit Bettina gesprochen?«
»Nein, ich war die ganzen letzten zwei Tage mit Aufräumen und Putzen beschäftigt… Naja, vielleicht habe ich mich auch gedrückt…« Sie lacht traurig.
Ich kann sie sehr gut verstehen. Wer würde sich schon darum reißen, so eine Nachricht zu verkünden? Ich nicht.
»Aber du hast recht, ich muss mit ihr reden«, murmelt sie leise. »Wenn ich nur wüsste, wie sie reagieren wird… und wie die Kinder reagieren werden…«
Ich denke an Alex.
Lange Zeit zum Grübeln bleibt mir jedoch nicht, denn bereits fünf Minuten später hat sich die gesamte Familie um den Frühstückstisch versammelt. Also, zumindest sind ihre menschlichen Hüllen anwesend.
Maria scheint noch zu schlafen. Mit halbgeschlossenen Lidern sitzt sie am Tisch und rührt sich keinen Millimeter. Auch Pa sieht noch
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