Charlie Chan macht weiter
müssen, Mr. Chan«, sagte das Mädchen.
»Möchte Sie nicht von Ihrem Vergnügen abhalten.«
»Vergnügen? Sie haben ja sicher schon vom bethlehemitischen Kindermord gehört. Kennen Sie denn nicht ein altes chinesisches Sprichwort, um mich zu trösten?«
»Kenne nur eines, das Sie vielleicht gewarnt hätte. Das Reh sollte nicht mit dem Tiger spielen.«
»Das ist die beste Bridgeregel, die ich je gehört habe.«
Nach einiger Zeit erhob sich auch Charlie und ging an Deck. Er stand in einer dunklen Ecke an der Reling, als er einen verstohlenen Zischlaut hörte. Kashimo! Ihn hatte er vollständig vergessen.
Sein schlanker, kleiner Assistent näherte sich ihm. Selbst in der Finsternis war klar zu erkennen, daß er geradezu überlief, vor Aufregung und Geheimniskrämerei.
»Habe alles durchsucht«, wisperte er atemlos.
»Und?« hauchte Charlie.
»Ich habe den Schlüssel entdeckt«, erklärte der Japaner.
Chans Herz machte einen Sprung. Auch Welby hatte den Schlüssel entdeckt, erinnerte er sich.
»Sie sind fixer Arbeiter, Kashimo«, sagte der Chinese.
»Wo ist er?«
»Folgen Sie mir!«
Kashimo führte ihn zu einer Luxuskabine auf demselben Deck. Vor der Tür blieb er stehen.
»Wer bewohnt diesen Raum?« fragte Charlie ängstlich.
»Mr. Tait und Mr. Kennaway.«
Der Japaner stieß die Tür auf und knipste das Licht an. Charlie folgte ihm und schloß die Tür hinter sich. Die Bullaugen, die aufs Promenadendeck hinaussahen, waren abgedunkelt.
Kashimo kniete sich nieder und zerrte unter einem der Betten einen alten, abgestoßenen Koffer hervor; er war mit den Etiketten ausländischer Hotels beklebt. Der Japaner fuhr mit seinen Fingern liebevoll über einen besonders riesigen Aufkleber, der vom »Great Eastern Hotel« in Kalkutta stammte, und forderte Chan auf, es ihm gleichzutun.
Charlie berührte den Aufkleber und spürte darunter die Umrisse eines Schlüssels, etwa von der der Größe wie der, den Duff ihm gezeigt hätte.
»Gute Arbeit, Kashimo«, murmelte er.
Neben dem Schloß entdeckte er in goldenen Lettern die Initialen M. K.
18
Nach ein paar geflüsterten Anweisungen an Kashimo, kehrte Charlie an Deck zurück. Er stand nachdenklich an der Reling und starrte auf das silberne Band, das der Mond auf das dunkle Wasser zeichnete. Bewunderung für seinen Assistenten, der das geniale Versteck entdeckt hatte, erfüllte ihn. Ja, Kashimo war zweifellos ein Tölpel, aber er hatte geradezu geistvolle Anwandlungen, wenn er zwischen den Sachen anderer Menschen herumschnüffelte.
Doch wie kam dieser Schlüssel – das Duplikat desjenigen, der in der Hand des toten Hugh Morris Drake gefunden worden war – an Kennaways Gepäck? Es mußte der Schlüssel sein, den auch Welby entdeckt hatte. Ein gefährlicher Gegenstand also, der Welby das Leben gekostet hatte. Wo hatte er ihn gefunden? Am selben Ort?
Er befand sich unter dem Aufkleber des »Great Eastern Hotel« in Kalkutta, und die natürliche Schlußfolgerung war, daß er auch in dieser großen, indischen Stadt unter das Etikett gesteckt worden war; denn nur in Kalkutta selbst konnte man sich einen Aufkleber von dort besorgen. Also mußte sich der Schlüssel auch schon in Yokohama, wo Welby ihn lokalisiert hatte, dort befunden haben.
Das heißt, hatte Welby zu dem Mädchen nicht von dem Schlüssel so gesprochen, als ob er ihn tatsächlich gesehen hatte? Auch die Nummer? Aber vielleicht hatte er auch nur, wie Charlie, angenommen, daß es sich um das Duplikat handelte? Vielleicht hatte er auch nur, wie er, die Umrisse abgetastet? Und jemand hatte von dieser seiner Entdeckung erfahren, war ihm an Land gefolgt und hatte ihn ermordet.
Wer? Kennaway? Unsinn! Es war zweifellos der Mann gewesen, der Honywood und seine Frau umgebracht hatte. Kennaway war fast noch ein Junge. Was konnte er schon mit Jim Everhard und den Honywoods zu schaffen haben? Mit Ereignissen, die vor langer Zeit an irgendeinem fernen Platz stattgefunden hatten und seitdem viele Jahre lang im dunkeln geblieben waren? Charlie fuhr sich mit einer Hand an den Kopf. Immer wieder Rätsel. Nein, Kennaway konnte es nicht gewesen sein. Aber es gehörte augenscheinlich zur Taktik des Mörders, Unschuldige zu verdächtigen. Außerdem würde es wohl kaum sein Wunsch sein, daß der Schlüssel bei ihm gefunden wurde.
Wer hatte die beste Gelegenheit gehabt, den Schlüssel an Kennaways Koffer zu befestigen?
Chans Augen wurden plötzlich schmal. Wer außer Tait?
Tait, der neben dem Zimmer geschlafen
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