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Charlston Girl

Charlston Girl

Titel: Charlston Girl Kostenlos Bücher Online Lesen
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und Wein getrunken und eine Kippe nach der anderen geraucht und auf seiner Palette ausgedrückt... ich auch. Ich war nächtelang in seinem Atelier. Im Schuppen seiner Eltern. Ich nannte ihn immer Vincent, wegen van Gogh. Er nannte mich Mabel.« Wieder schnaubt sie leise.
    »Mabel ?« Ich rümpfe die Nase.
    »Bei ihm zu Hause gab es eine Dienstmagd namens Mabel. Einmal habe ich gesagt, das sei ja wohl der hässlichste Name, den man einem Kind geben kann, und dass man sie zwingen sollte, ihn zu ändern. Von da an hat er mich nur noch Mabel genannt. Fies und gemein, wie er war.«
    Es klingt wie ein kleiner Scherz, aber sie hat so ein merkwürdiges Funkeln in den Augen. Ich kann nicht erkennen, ob sie sich daran erinnern möchte oder nicht.
    »Hast du...?«, setze ich an, dann kneife ich, bevor ich die Frage beenden kann. Eigentlich wollte ich fragen: »Hast du ihn geliebt?« Aber Sadie hängt ihren Gedanken nach.
    »Ich habe mich immer aus dem Haus geschlichen, wenn alle schliefen, bin am Efeu runtergeklettert...« Mit leerem Blick sinniert sie vor sich hin. Plötzlich sieht sie richtig traurig aus. »Als man uns entdeckt hatte, wurde alles anders. Man schickte ihn nach Frankreich, zu irgendeinem Onkel, damit er sich das alles aus dem Kopf schlugt Als könnte ihn irgendwer am Malen hindern.«
    »Wie hieß er?«
    »Sein Name war Stephen Nettieton«, haucht Sadie. »Ich habe diesen Namen seit... siebzig Jahren nicht mehr ausgesprochen. Mindestens.«
    Seit siebzig Jahren?
    »Und was ist passiert? Danach?«
    »Wir hatten keinen Kontakt mehr, nie wieder«, sagt Sadie nüchtern.
    »Warum nicht?«, sage ich entsetzt. »Hast du ihm nicht geschrieben?«
    »Oh, doch. Ich habe ihm geschrieben.« Sie lächelt so zerbrechlich, dass ich zurückweiche. »Einen Brief nach dem anderen habe ich nach Frankreich geschickt, aber ich habe nie wieder von ihm gehört. Meine Eltern sagten, ich sei ein naives, kleines Mädchen. Sie sagten, er hätte mich benutzt. Anfangs wollte ich ihnen nicht glauben, habe sie dafür gehasst. Aber dann...« Sie blickt auf, mit zusammengebissenen Zähnen, als warte sie auf mein Mitgefühl. »Ich war wie du. ›Er liebt mich, tut er wirklich!««, spottet sie mit hoher Stimme. »‹Er schreibt mir! Er kommt zu mir zurück. Er liebt mich!‹ Weißt du, wie es sich anfühlte, als ich endlich wieder bei Sinnen war?«
    Die Stille ist gespannt.
    »Und... was hast du gemacht?« Ich wage kaum zu sprechen.
    »Hab natürlich geheiratet.« Ich sehe ihren Trotz aufblitzen. »Stephens Vater hat uns getraut. Er war unser Pfarrer. Stephen muss davon gewusst haben, aber er hat mir nicht mal eine Karte geschickt.«
    Dann schweigt sie, und ich sitze da. Meine Gedanken rotieren. Sie hat den Westenmann aus Rache geheiratet. Das ist offensichtlich. Kein Wunder, dass es nicht gehalten hat.
    Ich bin fix und fertig. Jetzt wünschte ich, ich hätte Sadie nicht so sehr bedrängt. Ich wollte nicht all die schmerzlichen Erinnerungen wachrufen. Ich dachte, sie hätte eine hübsche, farbenfrohe Anekdote zu erzählen, und ich könnte herausfinden, wie Sex in den Zwanzigern so war.
    »Hast du nie daran gedacht, Stephen nach Frankreich zu folgen?«, frage ich irgendwann.
    »Ich hatte meinen Stolz.« Mit schneidendem Blick sieht sie mich an, und fast möchte ich sagen: »Dafür habe ich meinen Josh wieder!«
    »Hast du von den Skizzen welche aufbewahrt?« Verzweifelt suche ich nach etwas Positivem.
    »Ich habe sie versteckt.« Sie nickt. »Da gab es auch ein großes Gemälde. Er hat es mir gebracht, kurz bevor er nach Frankreich ging, und ich habe es im Keller versteckt. Meine Eltern hatten keine Ahnung. Aber dann ist das Haus abgebrannt, und ich habe es verloren.«
    »Oh Gott.« Enttäuscht sinke ich in mich zusammen. »Wie schade!«
    »Eigentlich nicht. Es war mir egal. Warum sollte es mich interessieren?«
    Ich betrachte eine Minute lang, wie sie ihren Rock umfaltet, immer wieder, wie manisch, voller Erinnerung.
    »Vielleicht hat er deine Briefe nie bekommen«, sage ich hoffnungsfroh.
    »Oh doch. Das hat er bestimmt.« Ihre Stimme hat so einen scharfen Unterton. »Ich weiß, dass sie mit der Post weggingen. Ich habe sie aus dem Haus geschmuggelt und eigenhändig in den Briefkasten geworfen.«
    Ich fasse es nicht. Briefe schmuggeln, du meine Güte. Wieso gab es in den Zwanzigern noch keine Handys? Wenn man bedenkt, wie viele Missverständnisse man auf der Welt hätte vermeiden können. Erzherzog Franz Ferdinand hätte seinem Volk simsen

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