Chasm City
allzu fernen Tages, rasch ändern. Zunächst war es wohl besser, die Frage nicht zu beantworten. Er flog schweigend weiter, nur die Erstickungsanfälle des alten Mannes unterbrachen die Stille.
Aber Sky dachte angestrengt nach. Eine Bemerkung Balcazars ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: der Alte hatte angedeutet, es wäre besser, die Toten im All beizusetzen, als sie auf die Zielwelt mitzunehmen. Bei näherer Betrachtung hatte das eine gewisse Logik.
Jedes Kilogramm, das ein Schiff tragen musste, war ein Kilogramm, das von der interstellaren Reisegeschwindigkeit heruntergebremst werden musste. Das Schiff hatte eine Gesamtmasse von knapp einer Million Tonnen – das zehn Millionenfache der Masse eines Menschen, wie Balcazar ganz richtig gesagt hatte. Die einfachen Gesetze der Newton-Physik besagten, dass eine Verringerung der Schiffsmasse um diese Menge bei gleicher Triebwerksleistung zu einer proportionalen Erhöhung der Bremsgeschwindigkeit führen musste.
Eine Verbesserung um eins zu zehn Millionen war nicht gerade spektakulär… aber wer sagte denn, dass man sich mit der Masse eines einzigen Menschen begnügen musste?
Sky dachte an all die toten Passagiere auf der Santiago: die Schläfer, für die eine Reanimierung medizinisch nicht mehr möglich war. Die Forderung, sie trotzdem nach Journey’s End zu bringen, war pure Humanitätsduselei. Auch die großen, schweren Geräte zur Lebenserhaltung könnten abgeworfen werden. Je länger Sky darüber nachdachte, desto weniger unmöglich erschien es ihm, die Schiffsmasse auf diese Weise um etliche Tonnen zu reduzieren. So dargestellt, klang es fast zwingend. Das wäre immer noch sehr viel weniger als ein Tausendstel, aber – wer wusste denn, ob man in den kommenden Jahren nicht noch weitere Schläfer verlieren würde? Unzählige Dinge konnten schief gehen.
Sich in den Kälteschlaf zu begeben, war eine riskante Sache.
»Vielleicht sollten wir alle in Ruhe abwarten, Titus«, sagte der Captain und riss Sky damit aus seinen Gedanken. »Das wäre doch sicher nicht die schlechteste Reaktion, oder?«
»Abwarten, Captain?«
»Ja.« Der Captain dachte jetzt mit eisiger Klarheit, aber Sky wusste, dass diese Phase sehr schnell wieder vorbei sein konnte. »Abwarten, was die anderen tun, meine ich. Sie haben die Botschaft doch auch erhalten. Und sie werden ebenfalls erörtert haben, wie sie vorgehen wollen – aber sie konnten natürlich mit keinem von uns darüber sprechen.«
Der Captain schien bei klarem Verstand zu sein, dennoch hatte Sky Mühe, um zu folgen. Um das zu verbergen, sagte er: »Sie haben sie lange nicht mehr erwähnt, nicht wahr?«
»Natürlich nicht. Man ist doch keine Klatschbase, Titus – gerade Sie sollten das doch wissen. ›Loose lips sink ships‹, lautet ein altes Sprichwort. Durch Schwatzhaftigkeit versenkt man Schiffe. Oder sorgt dafür, dass sie entdeckt werden.«
»Entdeckt, Captain?«
»Wir wissen doch nur zu gut, dass unsere Freunde auf den anderen dreien von ihrer Existenz offenbar nichts ahnen. Wir haben Spione bis in die höchsten Ränge eingeschleust, und es ist nie ein Wort über sie gefallen.«
»Ist das auch ganz sicher, Captain?«
»Ach, ich denke schon, Titus.«
»Wirklich, Captain?«
»Natürlich. Sie haben auf der Santiago doch auch ständig ein Ohr am Boden, oder? Also wissen Sie, dass die Besatzung zumindest Gerüchte über das sechste Schiff gehört hat, selbst wenn ihnen die meisten keinen Glauben schenken.«
Sky verbarg seine Überraschung, so gut er konnte. »Die meisten halten das sechste Schiff für einen Mythos, Captain.«
»Und dabei soll es auch bleiben. Aber wir wissen es besser.«
Sky dachte bei sich: Es ist also wahr. Nach so langer Zeit erfahre ich, dass das verdammte Ding tatsächlich existiert Zumindest in Balcazars Phantasie. Aber so, wie der Captain redete, müsste auch Titus von dem Geheimnis gewusst haben. Da das sechste Schiff ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellte – auch wenn nur sehr wenig darüber bekannt war –, lag das durchaus im Bereich des Möglichen. Und Titus war gestorben, bevor er die Information an seinen Nachfolger hatte weitergeben können.
Sky dachte an seinen Freund Norquinco und an die gemeinsamen Zugfahrten mit ihm. Er erinnerte sich noch gut, wie fest Norquinco an die Existenz des sechsten Schiffes geglaubt hatte. Auch Gomez hatte sich leicht überzeugen lassen. Sky hatte mit den beiden seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesprochen, aber jetzt sah er sie im Geiste
Weitere Kostenlose Bücher