Chasm City
– aber das war wohl auch nicht vorgesehen. Inzwischen wusstest du ja alles, was du wissen wolltest. Und das erste Mal hatte rein berufliche Gründe. Du hast nur mit mir geschlafen, um an Informationen zu kommen.«
»Leider ohne Erfolg.«
»Aber das spielte kaum eine Rolle. Als ich mit deinem Gewehr und deiner Gondel abgehauen war, wusstest du doch Bescheid.«
»Was für eine rührende Geschichte.«
»Nicht für mich.« Ich schaute über das Geländer. »Aus meiner Sicht könnte die Geschichte für dich mit einem Sturz in die Tiefe enden, Zebra. Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um Reivich zu töten. Vielleicht hätte ich auch wenig Skrupel, jeden zu töten, der mir dabei in die Quere kommt. Hast du daran schon einmal gedacht?«
»Du hast eine Pistole in der Tasche. Wenn es dir hilft, dann schieß doch.«
Ich griff in die Tasche, um mich zu vergewissern, dass die Waffe noch da war, und nahm die Hand nicht wieder heraus. »Ich bräuchte nur abzudrücken.«
Sie zuckte nicht mit der Wimper, das musste ich ihr lassen. »Ohne die Hand aus der Tasche zu ziehen?«
»Du kannst es gern darauf ankommen lassen.« Es war, als probten wir einen Sketch genau nach Drehbuch und hätten keine andere Wahl, als dem Text bis zum bitteren Ende zu folgen, wie immer das auch aussehen mochte.
»Glaubst du wirklich, du würdest mich aus dieser Position treffen?«
»Es wäre nicht mein erster tödlicher Schuss aus diesem Winkel.« Aber, dachte ich, der erste, bei dem ich es darauf anlegte. Gittas Tod war schließlich keine Absicht gewesen. Und ich war auch nicht sicher, ob ich Zebra wirklich töten wollte.
Gittas Tod war keine Absicht gewesen …
Ich hatte dem Gedanken ausweichen wollen, aber ich war wie in einem Labyrinth mit nur einem Ausgang immer wieder bei diesem einen Moment gelandet. Nun brachen sich die lange zurückgehaltenen Erinnerungen Bahn wie eine Horde Betrunkener, die eine Tür eintraten. Plötzlich war alles wieder da. Natürlich hatte ich gewusst, dass Gitta tot war, aber ich hatte es geflissentlich vermieden, genauer darüber nachzudenken, wie sie gestorben war. Sie war bei dem Angriff umgekommen – was gab es dazu noch zu sagen? Nichts.
Bis auf die fatale Tatsache, dass ich es war, der sie getötet hatte.
Und so sah meine Erinnerung aus.
Gitta erwachte als Erste. Sie hörte, wie die Angreifer im Schutz der grellen Blitze den Sicherheitskordon durchbrachen. Ihr angstvolles Wimmern weckte mich, und ich spürte, wie sich ihr nackter Körper an mich presste. Drei von den Eindringlingen konnte ich sehen: sie zeichneten sich grotesk verzerrt vor der Zeltwand ab wie die Figuren in einem Schattentheater. Jeder Blitz zeigte sie an einer anderen Stelle – manchmal einer, manchmal zwei, dann alle drei. Dann hörte ich Schreie, so kurz und prägnant wie Trompetenstöße – und erkannte an den Stimmen, dass sie von unseren Leuten kamen.
Ionisationsspuren rasten durch das Zelt, und der Sturm drängte mit solcher Kraft durch die Risse in den Wänden wie ein Geschöpf aus Regen und Wind. Ich hielt Gitta mit einer Hand den Mund zu und tastete mit der anderen unter meinem Kissen nach der Waffe, die ich vor dem Schlafengehen dort versteckt hatte. Zufrieden spürte ich, wie sich der kühle, anatomisch geformte Griff in meine Hand schmiegte.
Lautlos glitt ich vom Feldbett. Seit mir bewusst geworden war, dass wir angegriffen wurden, waren höchstens ein paar Sekunden vergangen.
»Tanner?«, rief ich. Meine Stimme ging fast unter im Heulen des Sturms. »Tanner, wo, zum Teufel, sind Sie?«
Gitta blieb, trotz der feuchten Hitze fröstelnd, allein unter der dünnen Decke zurück.
»Tanner?«
Allmählich schalteten meine Augen auf Nachtsicht um, und ich konnte in verschiedenen Grautönen das Innere des Zelts erkennen. Eine gute Modifikation; sie war den Preis wert, den mir die Ultras dafür abgeknöpft hatten. Dieterling hatte sich der gleichen Behandlung unterzogen und sie mir anschließend empfohlen. Durch Spleißen der Gene hatte man hinter meinen Netzhäuten eine organische Schicht aus reflektierendem Material erzeugt – das so genannte Tapetum. Es warf einerseits das Licht zurück und sorgte so für maximale Absorption in der Retina. Zum Zweiten fluoreszierte es und verschob damit die Frequenz des reflektierten Lichts hin zu dem Bereich, für den die Retina am empfindlichsten war. Die Ultras sagten, der einzige Nachteil des Spleißens – falls dabei von einem Nachteil überhaupt die Rede sein konnte –
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