Cherryblossom - Die Zeitwandler (German Edition)
sollen. Die Polizei ging davon aus, dass Mark mich gewürgt haben musste, vielleicht zudringlich geworden war und ich ihn in Notwehr erschlagen hatte. Und ich jetzt eine ausgewachsene Psychose hatte und mich in eine Fantasie flüchtete, in der ich das wirklich Geschehene nicht zulassen musste.
Ich nahm an, dass die Ärzte mich noch etwas hierbehalten würden, also vertrieb ich mir die Zeit damit, Kartenhäuser zu bauen und mit dem Plastikbesteck seltene Kunstkonstrukte zu erschaffen. Es gab hier nur Plastikbesteck, falls einer der Anwesenden auf die Idee kam, dass sich so eine Gabel oder ein Messer hervorragend für einen schönen Luftröhrenschnitt eignete. Laut meiner Zimmernachbarin gab es vor einigen Jahren so einen Fall. Da sprang ein Mädchen urplötzlich auf und rammte sich lachend eine Gabel in den Hals. Keiner wusste, wieso sie das tat. Im Grunde war sie lediglich wegen ihrer Magersucht in Behandlung gewesen. Sophie, so hieß meine Nachbarin, hatte eine Dauerkarte für diese Nervenheilanstalt und hatte schon viel miterlebt. Sie glaubte an Außerirdische, die ihr in regelmäßigen Abständen Postkarten schickten. Irre, nicht?
Falls ich noch wesentlich länger da drin geblieben wäre, hätte ich auch ganz gut so einen Luftröhrenschnitt gebrauchen können. Die Arme, die das ausprobierte, hatte ihn nämlich nicht überlebt. Und ich wollte nicht in solch einer Einrichtung leben, um keinen Preis der Welt. Allerdings fiel das jetzt flach, da ich das Gefühl nicht loswurde, dass es mit Plastikbesteck nicht funktionieren würde. Ich stach mir probeweise mit einer der Gabeln in den Arm, sie zerbrach fast augenblicklich. Und mich schüttelte ein verzweifeltes Lachen, das auch schnell in Geschluchze umschwenken konnte. Tränen schnürten mir schon die Kehle zu und ich versuchte angestrengt, sie wegzuschlucken. Erhängen fiel auch aus. Gürtel und ähnliches waren hier nicht erlaubt. Kurz musterte ich meine Fingernägel, die kämen auch nicht in Frage, um sich ernsthaft zu verletzen.
Ich fühlte mich so leer, verlassen und unendlich einsam. Wo zum Teufel war Henry? Er hatte mich noch nie im Stich gelassen. Warum tat er es jetzt! Oder war ihm am Ende etwas passiert? Und was zum Teufel war mit meinem Vater? Er könnte sich doch wenigstens einmal in meinem Leben nützlich machen und mich hier herausholen. Ich hatte noch nie Probleme verursacht. Also warum bemühte er sich nicht einmal nach Deutschland, wenn ich ihn schon mal brauchte? Er hatte sogar die richtigen Kontakte und Mittel, er bräuchte sicherlich nur mit den Fingern schnippen und könnte hier sein.
Weitere zwei Tage vergingen und Henry tauchte nicht auf. Sophie schaute mich manchmal stundenlang an. Mir lief es dann eiskalt den Rücken herunter und ich versuchte krampfhaft, so zu tun, als wäre nichts. Sie hatte sich mir gegenüber verändert, wirkte, als hegte sie irgendeinen Groll gegen mich. Von ihrer anfänglichen Freundlichkeit war nicht mehr viel zu spüren und ich hoffte inständig, dass sie keine Postkarte mit dem Vorschlag, mir irgendetwas Widerwärtiges anzutun, aus dem All bekam.
Dann geschah etwas außerhalb der Reihe. Unverhofft wurde ich in das Zimmer der Chefärztin Frau Theodin gerufen. Ich hatte schon viele Gespräche mit ihr gehabt und sie war immer recht freundlich und geduldig mit mir gewesen. Aufgeregt trat ich in das Zimmer und war sicher, dass Henry da war oder man ihn zumindest ausfindig gemacht hatte und ich bald hier rauskonnte. Aber ich wurde bitterlich enttäuscht. Mir wurde eine Frau Dr. Hagedorn vorgestellt. Sie war wohl Ende dreißig und reichte mir freundlich die Hand. Ich konnte nicht sagen, was genau mich an ihr so tief alarmierte.
Die Art, wie sie mich ansah? Die Art, wie sie lächelte? Keine Ahnung.
Sie sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu an, die ich nicht verstehen konnte und die sie versuchte zu verhehlen. Überfreundlich forderte sie mich auf, mich zu setzen und ließ sich erhaben mir gegenüber hinter Frau Theodins Schreibtisch nieder. Wir waren alleine.
»Fräulein Cherryblossom, oder darf ich Hanna sagen? Sie sind ja schließlich schon volljährig, da muss man ja die Form waren, nicht wahr?« Sie versuchte ein Lächeln.
Ich stutzte. »Bitte, in Ordnung, wenn Sie mir sagen, wann ich nach Hause kann.«
Sie überging meine Frage ohne die kleinste Regung im Gesicht. »Wie geht es Ihnen? Mir ist gesagt worden, Sie sind stabil und medikamentös eingestellt.«
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück
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