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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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»Melanosis. Du hast dich doch gerade gefragt, was es bedeutet!«
    »Stimmt« Lukas kratzte sich am Schädel und überlegte, ob er nach den Einzelheiten des Goldherstellungsverfahrens fragen sollte, doch der Doktor schien nun seinerseits das konzentrierte Schweigen leid zu sein. Von sich aus begann er zu erklären: »Für das Verfahren, von dem hier die Rede ist, benötigt man vier verschiedene Metalle.«
    »Vier! Wie die vier Elemente.«
    »Genau. Diese vier Metalle sind Blei, Zinn, Kupfer und Eisen. Sie gibt man zu genau festgelegten Teilen in einen Tiegel und schmilzt sie zusammen. Dabei erhält man das sogenannte Tetrasoma, den Vierkörper, eine schwarze Schlacke, die nichts Metallisches mehr hat und sich auch nicht mehr schmieden lässt. Die Herstellung des Tetrasomas bezeichnet der Alchemist als Melanois.«
    »Wozu dient sie?«, fragte Lukas. Schon nach diesen wenigenDetails hatte die Erzählung des Doktors ihn in ihren Bann geschlagen.
    »Schwarz ist die Abwesenheit von allem Seienden, denn die Nacht ist schwarz, bevor sie den Tag gebiert, und auch die Hölle ist schwarz, bevor das Licht der Gnade sie vernichtet. Wenn aber etwas völlig ohne Seiendes ist, so glauben die Alchemisten, enthält es gleichzeitig die Möglichkeit, zu allem, was ist, zu werden. Das Tetrasoma ist also die Prima Materia, die Urmaterie, aus der es möglich ist, Gold herzustellen.«
    »Aha.« Lukas nickte nachdenklich.
    »Die Melanosis ist auch der erste Schritt unseres Herstellungsverfahrens hier.« Der Doktor beugte sich über seinen Tiegel und betrachtete eine Weile lang die Oberfläche des Urins, die jetzt nur noch leicht simmerte. Der beißende Gestank in der Luft war etwas erträglicher geworden, aber immer noch deutlich wahrnehmbar. Mit einem zufriedenen Lächeln richtete der Doktor sich wieder auf. »Wie lautet der zweite Begriff auf dem Mörser?«, fragte er. »Kannst du es lesen?«
    Lukas kniff die Augen zusammen und entzifferte das zweite griechische Wort. »Leukosis?« Er war sich nicht ganz sicher.
    »Genau. Die Weißfärbung.« Der Doktor begann wieder zu rühren. »Bevor das gelingen kann, muss dem Tetrasoma ein wenig Silberpulver zugegeben werden, der sogenannte Silbersamen.«
    »Samen, wie Blumensamen?«
    »Ja. Du musst dir das Ganze vorstellen wie beim Brotbacken. Du hast doch bestimmt als Kind einmal zugesehen, wie deine Mutter Brot bäckt, oder?« Der Doktor wartete nicht ab, bis Lukas nickte, sondern sprach sogleich weiter: »Dem Mehl wird der Sauerteig zugegeben, und er vermehrt sich und macht aus der Masse den Brotteig, der dann gebacken werden kann. So kannst du es dir auch mit dem Silbersamen vorstellen. Seine Zugabe dient als Vorbereitung für die Leukosis, die selbst nun durch ein Bad in Quecksilber in Gang gesetzt wird. Ist sie abgeschlossen, haben wir in unserem Tiegel Silber, aber natürlich ist das nur ein Übergangsmaterial, sozusagen eine Zwischenstation auf unserem Weg, die Materie von allem Unedlen, Niederen zu erlösen. Als Drittes kommt dann die Xanthosis, die Gelbfärbung.«Der Doktor nannte Lukas diesen Begriff, und der drehte den Mörser und las ihn von dessen Rand ab. »Dafür gibt man dem erzeugten Silber nun – was zu?« Forschend sah der Doktor Lukas ins Gesicht.
    Der zögerte, aber dann sagte er doch: »Goldsamen?«
    Zufrieden lächelte der Doktor. »Genau. Der Vorgang ist ganz ähnlich wie bei der Leukosis: Zugabe des Samens, dann Eintauchen in eine Flüssigkeit, die in diesem Falle Theion hydor heißt.«
    »Und was ist das?«
    »Nun, man muss Kalk und Schwefel in einer Mischung aus Essig und dem Urin eines jungfräulichen Knaben kochen, um es zu erhalten.«
    Lukas blickte auf den Tiegel, in dem der Doktor rührte. »Urin«, sagte er.
    »Ja. Hier gibt es eine Verbindung.«
    »Aber Ihr wollt kein Gold herstellen, sondern Medizin.«
    Der Doktor bedeutete Lukas, den Blasebalg zu benutzen, und erst nachdem das geschehen war, sprach er weiter: »Das, was wir hier tun, ist dem Goldkochen recht ähnlich. Wir versuchen, aus einer niederen Substanz etwas Vollkommenes zu schaffen, indem wir ihr alles Niedere nehmen.«
    Inzwischen war aller Urin in dem Tiegel verdampft. Der Doktor winkte Lukas näher, und als dieser der Aufforderung nachkam und in das Gefäß blickte, sah er eine dickliche, ölige Substanz auf dessen dunkelgrüner Oberfläche. »Ist das unsere Prima Materia?«, fragte er. Die Substanz war dunkelrot, nicht schwarz.
    Da lachte der Doktor auf. Behutsam nahm er den Tiegel von der Glut,

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