Cherubim
Kunigunde gar nicht gesprochen. Die meisten davon, das wusste Katharina aus eigener Erfahrung, waren Symptome der melancholia , und ebenfalls aus eigener Erfahrung wusste sie, wie gut manche Menschen eine melancholia verbergen konnten. Sie selbst hatte es jahrelang getan.
»Hm.« Hohenheim legte die Hand an das Kinn und begann, im Zimmer auf und abzugehen.
»Entnehme ich deinen Fragen, dass auch du den schwarzen Harn mit der Krankheit der melancholia in Verbindung bringst?«, erkundigte sich Schedel.
Hohenheim zuckte die Achseln, ohne seine Wanderung dafür zu unterbrechen. »Man weiß es nicht so genau. Aber es gibt einige Gelehrte, die beides als zusammengehörig betrachten.« Er wies auf die Schrift von Johannes Aktuarius, die Katharina aus dem Besuchsraum mit in die Studierstube genommen und auf einen niedrigen Tisch gelegt hatte. »Du selbst besitzt einiges, was uns weiterhelfen könnte. Aber es besteht eine schwache Hoffnung, dass wir die ganzen Bücher gar nicht brauchen.«
Katharina schob das Kinn vor. »Und die wäre?«
»Ich selbst habe bisher noch nicht mit einem solchen Fall zu tun gehabt, aber ich weiß von meiner Frau, dass sie in ihrem Hospiz einmal ein altes Weib aufgenommen hat. Kurz bevor die Alte starb, erzählte sie davon, dass ihre Kinder allesamt unter Urina nigra litten und dass sie keinerlei Anstalten machten, einen frühen Tod zu sterben.«
Katharina spürte, wie sie Hoffnung für Kunigunde schöpfte. »Es ist also möglich, einen schwarzen Harn zu überleben?«
Hohenheim blieb endlich stehen. Er starrte einen Moment lang gegen die Wand, dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht. Ihr solltet zu Eurer Patientin gehen und sie fragen, ob sie Geschwister hat. Vielleicht findet Ihr jemanden, der wie sie unter diesen Symptomen leidet. Damit könnten wir dann möglicherweise weiterkommen. Ich werde unterdessen versuchen, an das nötige Wissen zu gelangen, das uns die Literatur über den schwarzen Harn gibt.«
Katharina spürte eine Art von Erleichterung, so fachkundige Hilfe zu haben. »Ich danke Euch!«, sagte sie.
Hohenheim strahlte sie an. »Kein Grund!«, gab er fröhlich zurück. »Ich habe Euch zu danken, für einen hochlehrenswerten Krankheitsfall, der sich in meinen Schriften gut machen wird.«
Wenig später stand Katharina erneut vor der Tür zum Kloster, doch diesmal wurde sie nicht zu Kunigunde vorgelassen. Schwester Aurelia, die jetzt Tordienst hatte, sagte ihr, dass die Priorin vor Erschöpfung eingeschlafen sei und ihre Ruhe brauche. An diesem Tag würde sie niemanden mehr empfangen.
»Ich bin hier, um ihre Krankheit zu behandeln«, insistierte Katharina, doch es nützte nichts.
Bedauernd schüttelte Aurelia den Kopf. »Ich darf Euch nicht einlassen.«
Ärger stieg in Katharina auf. Da hatte sie einen Ansatzpunkt gefunden, um der Priorin vielleicht helfen zu können, und jetzt scheiterte sie an dieser dummen Nonne?
»Sagt Ihr, dass ich eine wichtige Frage an sie habe, sobald sie sich wieder erhoben hat«, grummelte sie und gab sich keine Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken.
»Was für eine Frage?«, rutschte es Aurelia heraus.
Katharina wollte sie wegen ihrer überbordenden Neugier schon abkanzeln, als ihr ein Gedanke kam. Die junge Nonne schien über viele Dinge im Kloster gut im Bilde zu sein. Vielleicht wusste sie, ob die Priorin Geschwister hatte!
»Aber ja!«, rief Aurelia aus. »Einen Bruder, soweit ich weiß.«
Katharina beschloss, ihr ihre Neugier zu verzeihen. »Kennt Ihr seinen Namen?«
»Krafft. Wie die Priorin selbst auch.« Aurelia überlegte einen Moment. »Sein Vorname ist, glaube ich, Raphael. Aber da bin ich nicht sicher. Was ich allerdings sicher weiß, ist, dass er für den Rat als Abtrittanbieter arbeitet.«
Katharina nickte ihr dankbar zu. »Ihr habt mir sehr geholfen. Ich danke Euch.«
»Entschuldigt!« Die leise Stimme kam aus einer engen Gasse in der Nähe des Großen Marktes, und Raphael blieb stehen, um nachzusehen, wer dort nach seinen Diensten verlangte.
Die Stadt war an diesem Tag vor St. Martin voller als sonst, denn viele der wohlhabenden Bürger wollten sich mit jenen Dingen eindecken, die an dem besonderen Heiligentag benötigt wurden: Geflügel für das Festessen, Geschenke für die Kinder und allerlei Spezereien, mit denen sich zeigen ließ, wie gut es dem Hausherrn ging. Aber nicht nur Bürger waren in den Straßen unterwegs, sondern auch jede Menge Dienstmädchen, die mit dem Einkauf der weniger prestigeträchtigen Zutaten
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