Cherubim
blieb dicht vor Raphael stehen und deutete auf seinen Kopf.
Sie hörte, wie Egbert hinter ihr die drei Treppenstufen herunterkam. »Was hast du vor?«, fragte er.
»Seine Augen.« Katharina kniete sich hin und betrachtete Raphaels verzerrtes Gesicht. Sie fühlte sich unbehaglich unter dem leeren Blick seines verbliebenen Auges. Eine fast abergläubische Scheu erfasste sie, und plötzlich musste sie daran denken, was Maria bei ihrem allerersten Zusammentreffen gestammelt hatte. Konnte es wirklich sein, dass sich in der Pupille eines Ermordeten das letzte Bild zeigte, das er vor seinem Tod gesehen hatte?
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen beugte Katharina sich über Raphael. Ihr Blick glitt über seine nicht entstellte Gesichtshälfte, bevor sie es wagte, ihn auf das tote Auge zu richten.
Erleichtert atmete sie aus.
Kein Bild in der Pupille. Alles, was sie sah, war ein trüber, schwarzer Kreis, umgeben von der ebenfalls trüben Iris.
Katharina wollte sich schon wieder aufrichten, als etwas sie aufmerken ließ. Sie schaute noch einmal genauer hin. Dann fasste sie sich ein Herz und streckte die Hand nach Raphaels Gesicht aus.
Behutsam zog sie sein Oberlid ein Stück nach oben, so dass ein Teil des Augapfels sichtbar wurde.
Eine Weile starrte sie auf das Bild, das sich ihr bot. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken.
»Was hast du?« Egberts Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.
Sie ließ das Lid los. Es zog sich nicht in seine alte Stellung zurück, sondern blieb, wie Katharina es festgehalten hatte.
»Schau selbst«, forderte Katharina Egbert auf.
Er tat, wie ihm geheißen. Als er sich aufrichtete und Katharina ansah, da nickte er.
»Sieht so aus«, meinte Katharina, »als sei nicht nur Raphaels Urin schwarz gewesen.«
In Raphaels Augäpfeln, ganz im Augenwinkel, so dass es unter denLidern kaum sichtbar gewesen war, schwammen seltsame schwarze Schatten.
Der Karren mit Raphaels Leiche ratterte davon, während Katharina Egbert zurück ins Haus folgte. Im Herd brannte inzwischen ein Feuer, das Lukas entzündet hatte, und dankbar stellte Katharina sich davor, um die kalten Finger zu wärmen. Gegen die Kälte in ihrem Innersten, die der Anblick des Todes hervorgerufen hatte, vermochten die Flammen jedoch nichts auszurichten.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Egbert. Er ließ sich an den Küchentisch sinken, warf einen Blick auf das Buch, in dem er kurz zuvor geschrieben hatte, und klappte es dann achtlos zu.
»Ich glaube, dass diese schwarzen Augen der Schlüssel für die Morde sind«, murmelte Katharina. Sie rieb ihre Hände aneinander und ließ ihre Gedanken zurückwandern.
Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie Heinrich untersucht und auch bei ihm diese seltsamen schwarzen Schatten in den Augen festgestellt. Warum nur hatte sie nicht die richtigen Schlüsse gezogen? War sie von ihrer melancholia jetzt schon so sehr beeinträchtigt, dass sie nicht mehr klar denken konnte? Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie sich keine Vorwürfe machen konnte. Als sie die schwarzen Schatten bei Kunigunde entdeckt hatte, war sie davon ausgegangen, dass Mirjam die Mörderin war.
Ein Einfall kam ihr mit solcher Wucht, dass sie unter ihm zusammenzuckte.
»Was?« Egbert hob den Kopf und sah sie fragend an.
»Ich kenne noch jemanden, der diese schwarzen Augen hat.« Ihre Gedanken begannen zu rasen. »Was, wenn sie auch in Gefahr ist?«
»Sie?« Egbert erhob sich. »Von wem sprichst du?«
Katharina begegnete seinem Blick, und plötzlich bekam sie eine Gänsehaut. »Ich muss weg und sie warnen!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und war schon im Flur, bevor Egbert ihr folgen konnte.
Sie riss ihren Mantel vom Haken und streifte ihn im Laufen über. Die Haustür zu schließen hatte sie keine Geduld.
»Wo willst du hin?«, schrie Egbert ihr nach.
Aber sie hörte ihn kaum noch.Lukas war damit beschäftigt, in seiner Kammer an einem Brief zu schreiben, den er an einen Freund in Köln schicken wollte, als er den Doktor schreien hörte: »Wo willst du hin?«
Schlagartig standen ihm die Haare zu Berge. Da war wieder dieser zornige Unterton in der Stimme des Doktors!
Kurz überlegte Lukas, ob er nicht besser so tun sollte, als habe er nichts gehört, aber dann siegte seine Sympathie für Frau Jacob. Was, wenn der Doktor sie schlug, wenn er in dieser Stimmung war?
Seufzend legte er die Feder fort, rieb sich über die tintenfleckigen Finger und machte sich auf den Weg nach unten.
Der Doktor stand am Küchentisch
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