Cherubim
Achseln. »Bei dem gab es wenigstens eine Erklärung für seinen Wahn.«
»Bei Egbert auch«, erinnerte Katharina ihn und legte Zeige- und Mittelfinger auf die Mitte ihrer Stirn.
»Die Kopfverletzung, ja.« Schedel lehnte sich zurück. »Ich habe mich ein wenig kundig gemacht. Hippokrates beschreibt einen Fall, in dem ein Mann, der einen Schlag auf den Kopf erhalten hat, ganz ähnlich reagierte wie Euer Gatte.«
»Er war nicht besessen, oder?«, erkundigte sich Katharina. Über diese Frage grübelte sie seit Egberts Tod. Die Art und Weise, wie er Richard angefallen hatte, und das häufige Schwanken zwischen Freundlichkeit und Zorn waren ihr unheimlicher geworden mit jedem Tag, der vergangen war. Und die Vorstellung, dass ein Dämon ihn zu seinen Taten getrieben hatte, bereitete ihr ein eigenartiges Gefühl von Befangenheit, obwohl es sie doch eigentlich hätte erleichtern müssen. Allein der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht ihr Mann gewesen war, mit dem sie das Lager geteilt hatte, verursachte ihr Magenschmerzen.
Schedel schüttelte den Kopf. »Je länger ich mich mit solchen Fällen beschäftige, um so sicherer bin ich mir, dass die wenigsten Phänomene von Dämonen verursacht werden.«
Katharina musste an Maria denken. Richard hatte ihr erzählt, was die Arme in ihrer Zelle im Narrenhäuslein gesagt hatte.
Das Böse, es kommt nicht vom Teufel oder von irgendwelchen Dämonen, die uns quälen. Es wird uns von Menschen zugefügt.
Wie wahr!, dachte Katharina.
Sie unterhielt sich noch eine Weile mit Schedel und Hohenheim über die Medizin im Allgemeinen, bevor sie auf Kunigunde und ihre Familie zu sprechen kam.
»Glaubt Ihr, dass beides zusammenhängt, die schwarzen Augen und der schwarze Harn?«, wollte sie wissen.
Beide Männer nickten vehement. »Es liegt nahe, das zu glauben,oder?«, meinte Hohenheim. Dann seufzte er. »Wie gern würde ich in dieser Richtung weiterforschen! Der Zusammenhang zwischen schwarzer Galle, der melancholia und diesen Menschen mit dem Schwarzharn ist gar zu bemerkenswert!« Er zog ein beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche. »Seht einmal, was Lukas mir verraten hat.«
Katharina überflog den Text, der mit einer sehr unordentlichen, kindlichen Schrift niedergeschrieben worden war.
»Besonders den Urin. Destilliere ihn gar über. So gehen die Elemente Luft, Wasser und Erde hinüber. Bleibet Feuer am Boden. Dann nimm und schütte alles wieder zusammen. Und destillier auf vier Mal ...« Mit einem Lächeln ließ sie das Blatt sinken. »Lukas hat Euch die Herstellung des apricums verraten?«
Er nickte begeistert, nahm den Zettel wieder an sich und steckte ihn weg.
Einen Moment lang schwiegen sie allesamt.
Katharina beneidete den Medicus um die unbefangene Art, mit der er auf die furchtbaren Morde reagierte. Für ihn waren sie nichts weiter als die Äußerungen von Krankheiten, für deren Bekämpfung er lebte.
Wie gern hätte sie selbst diesen Abstand auch gehabt!
Aber sie musste in einem fort an die Opfer denken. An Dagmar und ihr Kind, das nie das Licht der Welt erblicken würde. An Heinrich, den sie so sehr ins Herz geschlossen hatte mit seiner liebevollen Art. An Raphael, den sie gern näher kennengelernt hätte.
Aber auch an Kundigunde.
Und natürlich an Egbert.
Auf ihre eigene Weise waren auch sie Opfer, dachte Katharina. Opfer der Umstände oder eines sadistischen Gottes, der seine Spielchen mit ihnen und ihren Seelen spielte.
Sie schob diese blasphemischen Gedanken von sich.
Noch während sie überlegte, was sie sagen sollte, wurde zum zweiten Mal an diesem Tag der Klingelzug neben der Haustür betätigt.
Richard verspürte große Unsicherheit, als Katharina ihm öffnete. Sie trug ein schlichtes dunkles Kleid, das ihrem soeben erst neuerworbenenStatus als Witwe gerecht wurde, aber ihre blonden Haare waren unbedeckt. Aus ihren rauchfarbenen Augen blickte sie auf Richard hinab, der zwei Stufen unter ihr stand. »Darf ich hereinkommen?«, fragte er. Sein Herz flatterte ihm im Brustkorb.
Es war nicht das erste Mal, dass sie sich seit Egberts Tod trafen. Auf dessen Beerdigung waren sie sich begegnet und auch auf der von Raphael und seinen beiden Kindern. Doch stets hatten sie nur kurz Höflichkeiten ausgetauscht und nie wirklich miteinander gesprochen.
Katharina machte ihm den Weg frei.
»Ich komme gerade von Silberschläger.« Richard erklomm die beiden letzten Stufen und betrat das Haus. Es war in den vergangenen Tagen ein wenig wohnlicher geworden, offenbar
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