Chill mal, Frau Freitag
Seit wann das denn?«
Kurz vor den Ferien kommen komischerweise auch die Dauerschwänzer wieder in den Unterricht, Schüler, die man nur von der Kursliste kennt und noch nie gesehen hat. Scheinbar wagen sie sich erst nach den Konferenzen in die Schule, wenn der Druck weg ist. Wenigstens fragen die nicht nach besseren Noten.
Vor den Konferenzen sitze ich stundenlang am Schreibtisch und rechne. Ich habe die Angewohnheit, jede Zensur aus tausend Kleinstnoten, die ich für alles Mögliche gegeben habe, zusammenzubasteln. Ganz am Anfang meiner Karriere kam es vor, dass ich am Ende eines Schuljahres zu wenige Einzelnoten hatte, deshalb gibt es bei mir jetzt pro Stunde mindestens eine, meistens aber wesentlich mehr Noten zu ergattern. Die mache ich im Bus, andere lesen, ich schreibe Mitarbeitsnoten in Zensurenhefte:
»War super, unglaublich, noch nie gesehen« = 1
»War auch super und toll, aber du hast Pech, dass der Soundso in deinem Kurs ist, und der ist besser« = 2
»Ach, was soll’s, du bemühst dich, bist immer pünktlich und nett, und manchmal sagst du auch was Richtiges« = 3
»Tut mir leid, von dem Fach hast du so gar keine Peilung, aber wenn ich dir jetzt eine Fünf gebe, muss ich am Ende noch Förderpläne schreiben, oder noch schlimmer: Du bleibst sitzen und kommst dann in meine Klasse, das muss verhindert werden« = 4
»Keine Ahnung haben und dann auch noch frech werden. Ständig zu spät, ohne Arbeitsmaterial und immer störende Bemerkungen, alles Schriftliche ein Griff ins Klo, dazu noch eine total schlechte Handschrift und die Blätter grundsätzlich zerknittert« = 5
»Stand zwar auf meiner Kursliste, kam aber nie, oder: Kam ab und zu und hat es dann gewagt, sich richtig doll mit mir anzulegen« = 6
Ich bin ja Schülerschleimer, ich gebe eigentlich keine Sechsen, nur den Karteileichen. Wer nett lächelt, bekommt bei mir schon eine Vier. Wer dazu noch gut aussieht und mir Komplimente macht, der kann sich schon über eine Drei freuen. So einfach ist das.
Aber trotzdem mache ich jedes Jahr den gleichen Fehler – ich lasse mich vor der Zensurenkonferenz dazu hinreißen, den Schülern ihre Noten zu sagen. Und dann startet der Basar: »Üff, mach nicht so, Frau Freitag! Warum nur sechs Punkte? Geben Sie eine Punkt mehr, dann hab ich ein Drei auf Zeugnis.«
»Ja, ich weiß. Leider waren deine Leistungen aber nur ausreichend . Und nicht befriedigend .«
»Wenn ich Ihnen noch ein Bild male, kann ich dann nicht in Kunst zwölf Punkte haben?«
»Die Notenabgabe war vorgestern. Du hast zu oft unentschuldigt gefehlt.«
Wer als Lehrer die Nähe zur Schülerschaft sucht, der sollte am Ende der Stunde die Zeugnisnoten vorlesen. Die Pause kann man dann getrost vergessen: »Wieso eine Fünf? Ich war doch fast immer da. Ich brauche doch eine Vier!« – »Der Ronnie war aber nicht besser als ich. Ich hab doch immer Zweien geschrieben. Echt, der wieder, nur weil er Deutscher ist …«
Auch auf dem Hof erfreut man sich allgemeiner Aufmerksamkeit: »Frau Freitag, geben Sie mir acht Punkte, biiittteee«, schreit man dir entgegen. Besonders schön auch: »Sie versauen meine gesamte Zukunft!« Oder, kombiniert mit einem Gesicht, als säße man in der Todeszelle: »Frau Freitag, Sie haben mein Leben gefickt.«
Und was macht der Lehrer? Der bleibt hart. »Ich muss jetzt zur Aufsicht.« – »Diese Note hast du dir selber eingebrockt.« – »Seit Monaten sage ich dir, du sollst dich anstrengen.«
Aber dann kommt der Lieblingsschüler. Du willst nicht, dass er dich vor den anderen nach seiner Note fragt. Du hast ihm nur elf Punkte gegeben, weil du sauer warst, dass er die letzte Hausaufgabe einfach nicht nachgereicht hat, du wolltest auch mal konsequent sein.
»Und ich?«
»Ja, nun …« Jetzt bloß nicht weich werden. Nicht vor den anderen Schülern!
»Was kriege ich in Englisch?«
»Also, du bekommst … also, warte mal …«, im Notenheft blättern, Zeit schinden. »Also, bei dir leider nur elf Punkte.«
»ELF Punkte?«
Der Lieblingsschüler ist ehrgeizig. Erst guckt er mich grimmig an, dann hellen sich seine Gesichtszüge sofort wieder auf: »Frau Freitag, elf Punkte! Elf Punkte hab ich in Musik. Und ich hasse Musik. Geben Sie mir zwölf!«
Hart bleiben, hart bleiben, nicht hingucken, hart bleiben.
»Aber du hast die eine Hausaufgabe …«
Der Lieblingsschüler lässt nicht locker: »Frau Freitag, is doch nur ein Punkt. Kommen Sie! Seien Sie nicht so! Wir gehen mal schick essen.«
Tja. Was sagt man
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