Chimären
ich, um Leute wie dich kennen zu lernen.“
„Schau, schau, nun wird er auch noch frech! So ein Lümmel!“ Aber er lachte, dass man die Zahnlücken sah und sich der Bart sträubte. „Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Käptn Nemo. Kennst du Käptn Nemo?“
„Nein, Flint, Kapitän Flint kenne ich.“
Er winkte ab.
Eine Weile herrschte Schweigen.
„Weißt du was, ich habe eine Idee. Die See kann noch warten. Wenn das Schiff kommt, bin ich einfach nicht da. Wir beide machen Kohle! Mann, das wird eine Sache. Kannst du noch etwas anderes außer Reden? Kunststücke vielleicht, einen Überschlag oder so was?“
„Lesen und rechnen kann ich.“
„Lesen und rechnen. Na ja, das ist auch was. Kunststücke wären besser. Lesen und rechnen sind aus der Mode.“
„Was hast du vor?“
„Wir machen eine Nummer, wir zwei. Das gibt ein Gaudi. Die wenigsten Leute haben einen Hund gesehen, der reden kann. Dafür rücken sie Euros raus, wenn wir es geschickt anstellen. Ich garantiere dir, in einer Stunde haben wir die Fresserei für den Tag herein und ein Logis im Heim dazu. Da kann Ede seine Geige einpacken. Gleich morgen fangen wir an, dort, wo viele Leute sind. Du wirst sehn, das wird ein Fest. Hier friss, nimm alles. Ab morgen leben wir wie Gott in Frankreich, ha!“ Er kratzte mit dem Messer in der Konservenbüchse herum und kippte sie vor Lux aus. Dann trank er mit einem Zug die noch wohlgefüllte Bierdose leer, löschte die Flamme unter dem Kocher und rollte sich unvermittelt zwischen all den Gegenständen gekrümmt auf seine Decke. „Gönnen wir uns ein Schläfchen, Lux. Wir brauchen unsere Kräfte.“
Über die Brücke und auf der Straße, die zum Fluss parallel verlief, rollte der lärmende mittägliche Verkehr. Käptn Nemo war in wenigen Minuten eingeschlafen. Er atmete regelmäßig geräuschvoll, und wenn er die Luft ausstieß, richteten sich um den Mund herum die Barthaare auf.
Wieder fühlte sich Lux verunsichert. Was tun? Auf das Vorhaben des Alten eingehen? Warum, wusste er nicht, aber er hielt das nicht für eine gute Idee, und er ahnte, Shirley würde solches nicht gut heißen. Ihn beschlich das unbestimmte Gefühl, dass er von diesem sonderbaren Nemo kaum etwas lernen, über die moderne Welt erfahren könnte. ,Die Menschen leben in Häusern; sie fressen nicht aus Büchsen und schlafen nicht unter Brücken. Unter solchen müsste unser Platz sein, nicht hier. Ich werde den richtigen Zugang finden. Warte du auf dein Schiff, Käptn Nemo. Danke für die Kost!’ Lux erhob sich und trottete unter der Brükke hervor, flussaufwärts.
J e weiter sich Lux vom Stadtzentrum entfernte, desto sinnloser kam ihm seine Unternehmung vor. Was für ein Ergebnis konnte er noch erwarten? Aber umkehren? Zurück zu Shirley oder in die Stadt zu den vielen Menschen?
Es hatte ihm gut getan, dass er nach der Begegnung mit diesem Nemo in der breiten Uferregion kaum mehr einen Menschen getroffen hatte. Einige hatten ruhig dagesessen und Ruten ins Wasser gehalten, wenige andere sind auf den Wegen entlanggestampft, schwitzend, keuchend, nicht nach links und nicht nach rechts schauend. Und auf dem Fluss selbst sind weiße Schiffe mit Leuten darauf, aber auch mit großen Haufen beladene und kleine Boote gefahren, stromauf und -ab. Solches kannte Lux aus dem, was Shirley manchmal vorgelesen hatte und aus Bildern. Und obwohl er noch nie mit Derartigem konfrontiert worden war, konnte er es sofort einordnen, und er war mit sich sehr zufrieden.
Niemand hatte während der Wanderung von einem Hund Notiz genommen.
Lux verspürte abermals Hunger. Der kleine Imbiss bei diesem Kapitän Nemo hatte nicht lang vorgehalten.
Die Uferzone wurde eng, später von einem hochgelegenen Weg unterbrochen, der in eine kleine, in den Fluss ragende Brücke mündete, und an der Brücke lag eines dieser weißen Schiffe, auf welches eine Menge Leute stiegen.
Der Entschluss kam plötzlich.
Lux reihte sich ein. Dann, als er auf das Deck sprang, hörte er noch den Ruf: „Wem gehört dieser Hund?“ Aber da hatte er sich bereits am Geländer entlang in ein Geviert mit vielen Bänken geflüchtet, und eingedenk seiner Erfahrung war er unter eine von diesen gekrochen und für Leute, die sich langsam einfanden, nicht mehr sichtbar.
Jener Mann, der da gerufen hatte, riss die Billets entzwei und hielt sich offenbar für unabkömmlich, so dass er den schwarz fahrenden Hund nicht
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