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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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bereits kurz vor halb vier ist. Ich muß schon länger hier sitzen, als ich angenommen habe, denn die Kerze ist fast heruntergebrannt, und meine Glieder sind kalt und steif. Dennoch ist das ungute Gefühl verschwunden, ich fühle mich seltsam ausgeruht und zufrieden, ohne daß ich mir das erklären könnte.
    Ich schlüpfe wieder in mein Bett – Anouk hat sich inzwischen breitgemacht, ihre Arme auf den Kissen ausgestreckt – und kuschele mich unter die warme Decke. Meine anspruchsvolle kleine Fremde wird zufrieden sein. Beim Einschlafen meine ich einen Moment lang, die Stimme meiner Mutter zu hören, die ganz dicht bei meinem Ohr etwas flüstert.
    Freitag, 7. März
    Die Zigeuner ziehen ab. Ich bin heute morgen am Ufer entlanggegangen und habe sie bei ihren Vorkehrungen beobachtet, wie sie ihre Fischreusen einholten und ihre endlosen Wäscheleinen abnahmen. Einige sind gestern abend in der Dunkelheit abgefahren – ich habe gehört, wie sie ihre Signalpfeifen und Nebelhörner wie eine letzte Geste des Hohnsertönen ließen –, doch die meisten sind so abergläubisch, daß sie es nicht wagen, vor der Dämmerung aufzubrechen. Es war kurz nach sieben, als ich vorbeiging. Kalter Nebel lag über dem Fluß. Im fahlen, graugrünen Licht der Morgendämmerung wirkten sie bleich und mürrisch, wie Flüchtlinge, als sie die letzten Reste ihres schwimmenden Zirkus zusammenpackten. Was am Abend zuvor noch zauberhaft funkelte und glitzerte, war allen scheinbaren Prunks beraubt und wirkte nur noch trist und heruntergekommen. In der feuchtkalten Luft liegt ein Geruch von Maschinenöl und Verbranntem. Man hört das Knattern von Segeltuch, das Wummern der Schiffsmotoren. Mit finsterer Miene versehen sie ihre Arbeit, und kaum einer schaut zu mir herüber. Keiner sagt ein Wort. Roux ist nicht unter den Nachzüglern. Vielleicht ist er schon mit den anderen abgefahren. Es sind noch etwa dreißig Boote übrig, sie liegen tief im Wasser, belastet mit all den Vorräten, die sie sich beschafft haben. Ich sehe Zézette am Rand der schrottreifen Flotte, wie sie irgendwelche unidentifizierbaren verkohlten Gegenstände auf ihr Boot hievt. Auf einer versengten Matratze und einer Kiste voller Zeitschriften steht gefährlich wackelig ein Käfig mit Hühnern. Sie wirft mir einen haßerfüllten Blick zu, sagt jedoch nichts.
    Glauben Sie nicht, ich hätte kein Mitgefühl mit diesen Leuten, mon père . Ich empfinde keinen persönlichen Groll , aber ich muß an meine Gemeinde denken. Ich kann meine Zeit nicht mit unerbetenen Predigten für Fremde vergeuden, die mich nur verhöhnen und beleidigen würden. Und dennoch bin ich nicht unnahbar. Jeder von ihnen wäre in meiner Kirche willkommen, wenn er ernste Reue zeigte. Wenn sie geistlichen Beistand brauchen, wissen sie, daß sie sich an mich wenden können.
    Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen. Seit dem Beginn der Fastenzeit leide ich an Schlafstörungen. Oft stehe ich vor dem Morgengrauen auf in der Hoffnung, in einem Buch,auf den stillen, dunklen Straßen von Lansquenet oder am Ufer des Tannes Schlaf zu finden. Letzte Nacht war ich noch ruheloser als gewöhnlich, und da ich wußte, daß ich sowieso nicht würde schlafen können, bin ich gegen elf aus dem Haus gegangen und eine Stunde lang am Fluß entlanggewandert. Ich ging an Les Marauds und dem schwimmenden Lager der Zigeuner vorbei flußaufwärts hinaus in die Felder, doch ich konnte die Geräusche ihres emsigen Treibens deutlich hören. Flußabwärts sah ich ihre Lagerfeuer am Ufer flackern und tanzende Gestalten im gelben Schein der Flammen. Als ich einen Blick auf meine Uhr warf, stellte ich fest, daß ich schon seit fast einer Stunde unterwegs war, und machte mich auf den Heimweg. Ich hatte nicht vorgehabt, durch Les Marauds zu gehen, sondern wollte denselben Weg zurück durch die Felder nehmen, was meinen Heimweg jedoch um eine halbe Stunde verlängert hätte, und mir war vor Müdigkeit flau und schwindlig. Noch schlimmer jedoch war, daß ich durch die Kombination aus frischer Luft und Übermüdung einen Hunger entwickelt hatte, der mit meinem morgendlichen Imbiß aus Brot und Kaffee kaum zu stillen sein würde. Aus diesem Grund schlug ich doch den Weg durch Les Marauds ein, Vater. Meine Stiefel sanken tief in den Schlamm am Ufer des Tannes, und mein Atem schimmerte weiß im Licht ihrer Feuer. Schon bald war ich nah genug, um zu erkennen, was dort vor sich ging. Sie feierten eine Art Party. Ich sah Laternen, Kerzen, die sie an den

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