Chocolat
Luftstrom rieseln. Sie fiel in einem blau-weiß-roten Farbenspiel. Ich hätte gern etwas gesagt, aber anscheinend gab es nichts mehr zu sagen.
»Schauerlich«, wiederholte Joséphine. »Ich hasse Begräbnisse. Ich gehe nie hin, wenn jemand beerdigt wird.«
Ich sagte nichts, sondern schaute still auf den leeren Platz hinaus und lauschte der Orgelmusik. Zumindest spielten sie nicht die Toccata . Jetzt wurde der Sarg in die Kirche getragen. Er wirkte sehr leicht, die Männer gingen zügig und wenig ehrfurchtsvoll über die Pflastersteine.
»Ich wünschte, wir wären nicht so nah bei der Kirche«, sagte Joséphine unruhig. »Was sich dort abspielt, macht mich ganz nervös.«
»In China gehen die Leute in Weiß zu Beerdigungen«, sagte ich. »Sie verteilen in leuchtend rotes Papier gewickelte Geschenke, das soll Glück bringen. Sie zünden Feuerwerkskörper an. Sie plaudern und lachen und tanzen und weinen. Und am Ende springen alle nacheinander über die Glut des Scheiterhaufens, um den aufsteigenden Rauch zu segnen.«
Sie schaute mich neugierig an.
»Haben Sie auch schon mal in China gelebt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Aber wir haben in New York viele Chinesen kennengelernt. Für sie war eine Beerdigung ein Fest, bei dem das Leben des Verstorbenen gefeiert wurde.«
Joséphine wirkte skeptisch.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie man den Tod feiern kann«, sagte sie schließlich.
»Man feiert nicht den Tod«, erklärte ich ihr. »Man feiert das Leben . Das ganze Leben. Selbst sein Ende.«
Ich nahm die Kanne mit der Schokolade von der Warmhalteplatte und füllte zwei Tassen.
Nach einer Weile ging ich in die Küche, um zwei Baisers zu holen, die noch warm und innen weich waren, und servierte sie mit Sahne und gehackten Haselnüssen.
»Irgendwie ist es nicht recht, ausgerechnet jetzt«, sagte Joséphine, doch sie aß trotzdem.
Es war schon fast Mittag, als die Trauergäste benommen und in der Sonne blinzelnd die Kirche verließen. Die Pralinen und Baisers waren alle fertig, die dunklen hatten wir etwas länger im Backofen gelassen. Ich sah Reynaud wieder am Portal stehen. Dann fuhren die alten Damen in ihrem Minibus ab – auf der Seite stand in leuchtend gelben Buchstaben Les Mimosas –, und auf dem Dorfplatz kehrte der Alltag wieder ein. Nachdem er die Trauergäste verabschiedet hatte, kam Narcisse in den Laden, völlig verschwitzt in seinem engen Hemdkragen. Als ich ihm mein Beileid aussprach, zuckte er die Schultern.
»Ich hab sie eigentlich gar nicht gekannt«, sagte er gleichgültig. »Eine Großtante von meiner verstorbenen Frau. Sie war schon seit zwanzig Jahren in dem Sterbehaus. Sie war geistig verwirrt.«
Das Sterbehaus. Ich sah, wie Joséphine das Gesicht verzog, als das Wort ausgesprochen wurde. Im Grunde genommen ist es das, was sich hinter dem lieblich klingenden Namen Les Mimosas verbirgt. Ein Haus, in dem man auf den Tod wartet. Narcisse hält sich an die im Volksmund gebräuchliche Bezeichnung. Die Frau war schon seit langem tot.
Ich schenkte Schokolade ein, dunkel und bittersüß.
»Möchten Sie ein Stück Kuchen?«
Er überlegte einen Moment lang.
»Lieber nicht, solange ich Trauer trage«, sagte er unsicher. »Was für ein Kuchen ist es denn?«
» Bavaroise mit Caramelguß.«
»Vielleicht ein kleines Stück.«
Joséphine starrte aus dem Fenster auf den leeren Dorfplatz.
»Da ist dieser Mann schon wieder«, murmelte sie. »Der aus Les Marauds . Er geht in die Kirche.«
Ich schaute aus der Tür. Roux stand direkt im Eingang von St. Jérôme. Er wirkte erregt, trat nervös von einem Fuß auf den anderen, die Arme fest um den Körper geschlungen, als sei ihm kalt.
Irgend etwas stimmte nicht, dessen war ich mir plötzlich ganz sicher. Irgend etwas Schlimmes war passiert. Dann sah ich, wie Roux sich abrupt umdrehte und wieder auf meinen Laden zukam. Er blieb kurz stehen, rieb sich den Nacken, sah sich noch einmal nach allen Seiten um und kam dann fast auf die Tür zugerannt, wo er mit gesenktem Kopf und unglücklich schuldbewußtem Blick stehenblieb.
»Armande«, sagte er. »Ich glaube, ich habe sie getötet.«
Einen Moment lang starrten wir ihn alle an. Er machte eine hilflose Geste mit den Händen, wie um schlimme Gedanken zu verscheuchen.
»Ich wollte den Priester holen. Sie hat kein Telefon, und ich dachte, er könnte vielleicht –« Er brach ab. Vor lauter Streß sprach er so starken Dialekt, daß seine Worte kaum zu verstehen waren, die kehligen Laute hätten
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