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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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mehrmals in Fleury gewesen, einmal auch bei den Frauen. Ich habe unter dem albernen Gekicher der Tussis meine Nummer abgezogen.«
    »Hast du deine Verlobte dort kennengelernt?«
    »Ja.«
    »Hast du sie im Umkleideraum gevögelt?«
    Volo antwortete nicht, da ihn plötzlich seine Erinnerungen überwältigten.
    In der Turnhalle bildeten die weiblichen Strafgefangenen einen Kreis um ihn. Sie glucksten. Stießen sich mit den Ellbogen an. Volo fühlte sich unwohl. Er konnte die offen feindseligen Lesben erkennen. Und die anderen, die vor Erregung bebten. Frauen, die seit Jahren kein Mann mehr angerührt hatte, abgesehen von dem Anstaltsarzt. Sie sandten starke Wellen der sinnlichen Begierde aus. Aber es war ein pervertiertes Begehren, das sich in eine dumpfe Wut verwandelt hatte. Der Russe sah sich schon in den Ringen hängen, Opfer einer Umzingelung durch Frauen.
    In diesem Kreis hatte er sie wiedererkannt. Francesca Battaglia. Dreimal Weltmeisterin im Muay-Thai, zwischen 1998 und 2002. In der gleichen Zeit viermal Europameisterin. Bei einem Schaukampf in Bery im November 1999 hatte er sie persönlich bewundert. Sie war wirklich La Pasionaria des Thai-Boxens, ein Fremdkörper unter diesen gestrandeten Existenzen. Was machte sie hier?
    Nach seiner Vorführung waren die Häftlinge in den Innenhof geeilt, um eine Kippe zu rauchen und sich über ihre Eindrücke von dem süßen Typen auszutauschen, der vor ihnen herumgehampelt hatte. Francesca hielt sich abseits. Volokine hatte die Aufseherinnen nach ihr gefragt und war ihr dann gefolgt. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf einer Bodendecke, auf dem Gesicht ein Rastermuster von den Gitterstäben des Fensters.
    Ihr Lebensstil war ungewöhnlich. Sie hatte die Erlaubnis erhalten, sich weiterhin vegetarisch zu ernähren. Sie trug kein Produkt tierischen Ursprungs an ihrem Körper, nicht einmal ein Lederband. Außerdem keine Marke, kein Logo, das an die umfassende Ausbeutung in der Welt erinnern konnte. Volokine beobachtete sie. Sie hatte einen reinen Körper, eine unglaubliche Lebenskraft.
    Volo bot ihr ein Tütchen an. Sie lehnte ab. Er fragte, ob er sich setzen dürfe. Sie verneinte. Der Russe setzte sich trotzdem, fest entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. Er begann den Joint zu drehen, während er sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie hatte tiefschwarzes Haar, geschnitten im Kleopatra-Stil. Das Gesicht einer griechischen Tragödin. Sie trug einen schwarzen Pullunder und eine Jogginghose. Ihr Oberkörper und ihre Beine waren rappeldürr. Er kannte diese Magerkeit nur von Junkies, deren Körper durch den Drogenkonsum ausgezehrt war.
    Aber diese scheinbare Zerbrechlichkeit trog. Francesca Battaglia konnte mit einem Fußtritt sieben übereinandergeschichtete Gipsplatten zerbrechen. Er hatte es mit eigenen Augen in Bercy gesehen, wo Kraftakte zu Jahrmarktsnummern werden.
    »Weshalb bist du hier?«
    »Terroranschläge.«
    »Welche Art Terrorismus?«
    »Gegen die Globalisierung.«
    Ihre Stimme war nicht rau, wie er erwartet hatte – alle Italienerinnen haben eine raue Stimme. Sie hatte einen Akzent, der jede Silbe besonders betonte. Eine Art Verzögerungswirkung, der jedem ihrer Sätze einen quälenden, beschwörenden Rhythmus gab.
    Volokine zündete seinen Joint an. Seine Hände zitterten.
    Er fuhr in einem ironischen Tonfall fort, den er sogleich bereute.
    »Willst du das große Gleichgewicht des Planeten wiederherstellen? Die multinationalen Konzerne dazu zwingen, ihren Arbeitskräften die Freiheit zurückzugeben?«
    »Ich will, dass die Multis eines Tages nicht mehr von ›ihren‹ Arbeitskräften sprechen können. Dass es keine Possessivpronomen mehr gibt. Weil es keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten mehr gibt.«
    Volokine stieß langsam eine dünne Rauchfahne aus:
    »Das ist unrealistisch, utopisch.«
    »Es ist utopisch und gerade deshalb realistisch.«
    Francesca hatte recht. Der Mensch ist da, um zu träumen, das heißt, um zu kämpfen und nicht um zu erleiden. Das ist das Gesetz der Evolution. Und vor allem ist der Mensch für die Poesie geschaffen. Und Utopien sind poetisch. Und die Dichtung würde gegen den Realismus immer recht behalten.
    »Was belästigst du mich?«, fragte sie plötzlich. »Bist du gekommen, um das wilde Tier in seinem Käfig zu bestaunen?«
    Volokine lächelte. Er streckte sich aus. Er hörte auf zu zittern. Der Joint zeitigte seine Wirkung:
    »Ich hab dich schon einmal gesehen. 1999 in Bercy.«
    »Na und?«
    »Weißt du, was mir

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