Choral des Todes
Blick traf sie wie eine Kugel. Er wirkte weder überrascht noch erschrocken. Im Gegenteil, er lächelte, und die Falten in seinem Gesicht ließen seine Züge noch deutlicher hervortreten, so wie ein Zeichner seine Skizze mit leichten Strichen konturiert. Seine Miene war so undurchdringlich wie eine Panzerplatte.
»Im Winter gebe ich ihnen Kastanien«, sagte er, wobei sein Atem wie eine Fahne von seinem Mund aufstieg. »Das ist mein Geheimnis. Später, viel später spürt man beim Verzehr ihrer Leber diese besondere Würze. Die Kastanien verstärken den Nussgeschmack der Stopfleber. Und, wie ich glaube, auch ihre wundervolle rosa Farbe.« Er warf den Gänsen, die mit den Flügeln gegen seine Beine schlugen, eine Handvoll Kastanien hin. »Im Périgord sagt man: ›Rosa wie der Hintern eines Engels‹.«
Die beiden Polizisten schwiegen. Py betrachtete ihre Miene und lachte schallend:
»Ziehen Sie doch kein solches Gesicht! Ich stelle meine Stopfleber eben selbst her. Das ist kein Verbrechen und auch kein barbarischer Akt, wie immer behauptet wird. Gänse sind Zugvögel. Sie sind physiologisch so ausgestattet, dass sie das Stopfen vertragen. Ohne diese Reserven, die sie sich jedes Jahr anfressen, könnten sie nicht wochenlang fliegen. Noch so ein Klischee über die sogenannte Grausamkeit der Menschen …«
»Unser Besuch scheint Sie nicht zu überraschen«, meinte Kasdan.
»Man hat mich vorgewarnt.«
»Wer?«
Py zuckte mit den Schultern und beugte sich abermals zu seinem Federvieh hinunter. Die Haut an seinem Hals hing herunter wie der Kinnlappen eines Hahns. Nur dieses Zeichen verriet, dass der Mann das vierte Lebensalter erreicht hatte. Achtzig Jahre oder mehr. Er schleuderte seine Kastanien noch immer in vollem Schwung.
Schließlich hielt er inne und musterte seine beiden Besucher:
»Wer sind Sie eigentlich? Die berittene Polizei?«
»Kommissar Kasdan, Hauptmann Volokine. Mordkommission. Jugendschutzdezernat. Wir ermitteln in vier Mordfällen.«
»Und da besuchen Sie mich am Tag nach Weihnachten tief in meinem Wald. Nichts liegt näher.«
»Wir glauben, dass die Kolonie Asunción etwas mit dieser Mordserie zu tun hat.«
Py verzog kurz das Gesicht.
»Natürlich.«
Er ging in Richtung des angebauten Schuppens, und die Gänseherde folgte ihm auf den Fuß. Zwischen den grauen Weibchen sah man die Männchen, die an ihren schwarzen Bauch- und Kopffedern zu erkennen waren. Der General öffnete die Tür. Ein Dutzend Gänse watschelte über die Schwelle. Andere schüttelten sich in der Nähe des Teichs.
Er zog seine Handschuhe aus und kehrte zu seinen Besuchern zurück:
»Ich weiß nichts. Ich kann nichts für Sie tun.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Kasdan. »Sie kennen die Geschichte der Kolonie. In Chile und in Frankreich. Können Sie uns erklären, weshalb es unsere Regierung zugelassen hat, dass sich eine solche Sekte in Frankreich ansiedelt, ja, wieso sie dieser Sekte ein autonomes Gebiet gewährt hat, in dem das französische Recht nicht gilt?«
Der Mann wandte sich zu dem Teich um und klopfte seine Handschuhe aneinander. In Ufernähe war das Wasser dunkel; weiter draußen hellte es sich zu einem leichten, heiteren Grün auf. Algen, Seerosenblätter und Schwebeteilchen bildeten zusammen einen hellen, glatten Teppich auf der Oberfläche.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Wir sind extra gekommen, um sie zu hören.«
Py wandte sich zu ihnen um: »Wissen Sie, was ein Black Site ist?«
»Nein«, antworteten die beiden Partner fast gleichzeitig.
Der General stopfte die Handschuhe in seine Taschen und machte dann einige Schritte. Volokine starrte ihm in die Augen, die im grauen Licht wie zwei Sterne funkelten. Dem Russe schoss ein Satz Hegels durch den Kopf, an den er sich aus seiner Studienzeit erinnerte. Er lautete sinngemäß: »Diese Nacht entdeckt man, wenn man einem Menschen in die Augen sieht – man taucht seinen Blick in eine Nacht, die schauderhaft wird …«
»Ein Black Site «, fuhr Py fort, »ist ein Sonderterritorium, ein Niemandsland, das Demokratien manchmal brauchen, um dort die Drecksarbeit zu erledigen.«
»Sie sprechen von Folter«, warf Kasdan ein.
»Wir sprechen von einer großen Gefahr. Terroranschläge und Selbstmordattentate nehmen gegenwärtig exponentiell zu. Gegenüber solchen Feinden wäre Mitleid fehl am Platz. Fanatismus ist die schlimmste Form von Gewalttätigkeit. Wir können nur mit der gleichen Gewalt darauf reagieren beziehungsweise, wenn möglich, diese Gewalt
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