Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
gibt.
Leute mit einem Opiatproblem findest du überall, auch in der Umkleidekabine bei H & M, im Wartezimmer beim Frauenarzt und hinter dem Schalter deiner Bank.
Das Einzige, was entlang der U-Bahnlinie 8, die auch am Kotti und am Hermannplatz hält, abgeht, ist, dass sich da Abhängige treffen, die von Ärzten kommen. Und die keine Lust auf das normale Leben haben, weil sie nicht wissen, wo sie hingehören. Weil sie nicht wissen, was sie sonst machen sollen. Die sind zwar clean, haben aber trotzdem keine Arbeit und kein normales Umfeld.
Viel öfter als am Kotti stand ich jetzt auf dem Teltower Sportplatz gleich bei uns um die Ecke und feuerte meinen Jungen an, der seit der WM 2006 in Deutschland wie viele andere Jungen seine Leidenschaft für Fußball entdeckt hatte. Das war alles sehr schön – obwohl schon bald Phillips Trainerin an meiner Tür klingelte und mir die dreckigen kleinen Trikots überreichte. Ich solle sie alle waschen, elf Stück samt Schienbeinschonern. Na, schöne Scheiße, dachte ich erst, aber dann habe ich es gern gemacht, denn alle Eltern waren mal dran, das geht reihum und gehört ja auch zum Gemeinschaftsgeist.
Ich war so stolz auf Phillip, auch deshalb, weil er ganz tapfer ertrug, dass seine Mannschaft Spiel um Spiel haushoch verlor. Mit so schlimmen Ergebnissen wie zehn zu null gingen die meisten Begegnungen für sein Team aus. Er spielte in der E-Jugend, und wie es sich für Zehn- und Elfjährige gehört, schlitterten sie in der Hoffnung auf einen Sieg ständig auf Knien und Hintern über den Platz, um den Ball vor ihrem Gegner zu erwischen. Ich wollte Phillip in seinem Eifer unterstützen, und natürlich wusch ich dafür die matschigen Trikots seines Teams.
Leider hörte dann seine Trainerin aus persönlichen Gründen auf, die ich hier nicht nennen möchte. Phillip hielt sie zwar für keine gute Trainerin; ihre Zwillingssöhne spielten in seiner Mannschaft und benahmen sich, als gehörte ihnen der gesamte Platz, ohne dass ihre Mutter etwas dagegen unternommen hätte. Aber es fand sich so schnell kein Ersatz, sodass Phillip die Lust verlor und sich stattdessen einen Angelschein besorgte.
In Brandenburg kann man für zwölf Euro Friedfische angeln. Das sind Fischarten, die keine anderen Fische jagen, sondern sich von Insektenlarven, Schnecken und Plankton ernähren. Anders als Hechte und Zander zum Beispiel. Karpfen und Barbe gehören zu den Friedfischen, Hering und Rotfeder. Das Geld für das nötige Zubehör sparte er sich selbst von seinem Taschengeld zusammen. Mit seinem Vater saß Phillip manchmal stundenlang am See, und sein Fang kam abends in meine Pfanne. Natürlich war dann auch ständig unser Kühlschrank voll mit diesem Zeugs, Mais und Fliegenmaden, was man eben so braucht, um die Friedfische anzulocken. Neulich hatten die beiden einen riesigen Karpfen an der Angel, so groß, dass sie zu zweit ziehen und kurbeln mussten. Der Fisch war fast so dick, wie er lang war, bestimmt 40, 50 Zentimeter und sicher drei, vier Kilo schwer. Als sie ihn an Land hatten, zappelte er noch wild am Boden, und ich habe nur panisch geschrien: „Macht irgendwas, der ist noch nicht tot, der macht sein Maul auf und starrt mich an.“ Phillip und sein Vater haben sich natürlich kaputtgelacht über meine Empfindlichkeit.
Ich hatte mich von Phillips Vater getrennt, als der Junge neun Monate alt war. Die Beziehung hielt überhaupt nur gut anderthalb Jahre, Sebastian ist zehn Jahre jünger als ich und war erst 23, viel zu jung, als Phillip zur Welt kam. Auch wenn er damit einverstanden war, dass ich das Kind behalte, hatte Sebastian die Verantwortung vielleicht etwas unterschätzt. Er freute sich und feierte die Geburt seines Sohnes, aber er war kaum zu Hause, um sich um sein Kind zu kümmern. Aus seiner Sicht stellte sich die Sache natürlich anders dar, er selbst erlebte sich als fürsorglichen Vater. Wir stritten uns sehr viel, ich konnte ihm aber nicht böse sein, er war noch so jung. Und ich traute mir inzwischen zu, Phillip auch allein großzuziehen.
Sebastian und ich haben noch Kontakt, vordergründig wegen unseres gemeinsamen Kindes, ist doch klar. Phillip sieht ihn auch regelmäßig, ab und zu machen sie sogar gemeinsame Kurztrips nach Süddeutschland, zum Beispiel zu Sebastians Eltern. Auch Geburtstage und Weihnachten haben wir in den ersten Jahren immer zusammen gefeiert, selbst als Sebastian längst wieder eine neue Freundin hatte. Wir waren zwar keine richtige Familie, wie man
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