Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
hatte, als er 1977 bei einem Livekonzert an der Spree Iggy Pop das Hosenbein von oben bis unten ableckte. Zu guter Letzt war da noch der Sänger von Abwärts, Frank Ziegert, von dem ich damals ein Riesenfan war. Mir blieb fast die Luft weg, als ich erfuhr, dass ich mit dem Sänger meiner Lieblingsband zusammen in einer WG leben durfte.
Die Wohnung bestand einfach nur aus einem langen Flur mit fünf Zimmern, die alle zur Straße hin lagen. In jedem war ein Waschbecken, die stammten noch aus den Rotlichtzeiten. Wenn man reinkam, gab es gleich rechts eine größere Nische, in der früher wohl eine Rezeption gewesen war. Dort parkten wir unsere Fahrräder. Gleich daneben gab es ein Gäste-WC und gegenüber davon das erste Zimmer, dem dann vier weitere auf derselben Seite folgten. Das letzte davon war unser Gemeinschaftsraum, dort lagerten wir Musikinstrumente und Putzzeug. Ständig wohnten zeitweise weitere Künstler bei uns, die gerade einmal genug Geld hatten, um im Hafenklang-Tonstudio irgendeinen Song aufzunehmen, aber keine Miete bezahlen konnten – unter anderen Campino, dessen Band damals noch ZK hieß und nicht Die Toten Hosen.
Das Hafenklang-Studio ist ein wunderschönes Kultur- und Musikzentrum in Altona. Es ist eines der letzten erhaltenen Häuser aus dem 19. Jahrhundert und erinnert bis heute daran, wie Altona früher einmal ausgesehen hat, mit engen Straßen und verwinkelten Treppen, die zum Elbhang runterführten. Vom Studio kann man die Boote auf der Elbe sehen, es ist einfach nur schön, und Musiker wie Udo Lindenberg und die Einstürzenden Neubauten haben dort gewohnt und gearbeitet. Das Haus war in den Achtzigern der Treffpunkt der Kreativen, weil es darin das erste 24-Spur-Tonstudio der Stadt gab. Im Keller fanden damals außerdem immer Konzerte statt, die die Betreiber des Tonstudios organisierten.
Die Bands der Zeit waren neben den Neubauten und Abwärts Die Krupps, Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) und Palais Schaumburg. Sie wurden durch das Hamburger Label ZickZack promotet, das aus dem RipOff-Plattenladen im Hamburger Karoviertel entstanden war und neben einigen wenigen Labels in Düsseldorf, Berlin und Hannover zu den ersten innovativen und prägenden Institutionen der Musikkultur in Deutschland gehörte.
Es war die Zeit des Punk und der Neuen Deutschen Welle, und unsere improvisierte Wohnung in der ehemaligen St.-Pauli-Nachrichtenredaktion war das musikalische Epizentrum!
Ich hatte meine Mitbewohner alle in der Hamburger Markthalle kennengelernt. Dort fanden damals die angesagten Konzerte statt, überwiegend von Klaus Maeck organisiert, und auch sonst hing man hier ab, es gab Bars und Spielhallen, es war ein Sammelpunkt für viele Künstler. An den Wochenenden fuhr ich von meiner Oma in Kaltenkirchen aus für sieben Mark mit der Altona-Kaltenkirchen-Neumünster Eisenbahn, der AKN, die 25 Kilometer bis Hamburg-Eidelstedt – und von dort zur Markthalle.
An das Leben auf dem Land hatte ich mich nie so richtig gewöhnen können. Für ein paar Wochen war es okay gewesen, als ich mit 15 erstmals bei meiner Oma und meiner Tante untergebracht worden war, weil keine Strafanzeige und kein Entzug, kein Ohnmachtsanfall und kein Klinikaufenthalt mich vom Heroin hatten abbringen können. Deshalb war der Versuch meiner Mutter, mich aus der Szene rauszuholen, sicher richtig. Aber meine Oma und ich, das passte ganz und gar nicht. Sie lief im Dirndl rum, obwohl wir in Schleswig-Holstein lebten, war ein Bayern-Fan, liebte Franz Josef Strauß und war konservativ bis zur Ausländerfeindlichkeit.
Als Hitler an die Macht kam, war meine Oma elf Jahre. Genau im richtigen Alter, um dann später mit dem Strom zu schwimmen. Diese Gesinnung wurde sie Zeit ihres Lebens nicht mehr los.
Meinen Opa, einen wirklich gestandenen Mann, der in Ostdeutschland eine Druckerei und eine Zeitung besessen hatte, bis er nach dem Krieg in der DDR enteignet worden war, hatte meine Großmutter verlassen, weil sie ihn für ein Weichei hielt. Nachdem er einmal vor Gästen über seine Kriegsgefangenschaft gesprochen und dabei erwähnt hatte, dass die Polen eigentlich ganz nette Menschen seien, war es angeblich vorbei gewesen. Auch alles, was ich verkörperte, was ich tat und wie ich aussah, war ihr vollkommen zuwider.
Anfangs lief ich noch in High Heels und engen Jeans rum, bis ich einfach nicht mehr hören konnte, ich sähe aus wie eine Nutte. Ich war für meine Oma eine einzige Zumutung: Dass ich nicht mehr essen wollte, wenn
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