Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
versucht, aber er war einfach noch viel zu jung und konnte die Verantwortung nicht übernehmen. Und zu krank.
Der Grund, weshalb die meisten Heroin-Junkies sterben, ist ja in der Regel nicht die Droge selbst. An einer Überdosis krepieren die wenigsten, in den meisten Fällen geschieht das durch andere Krankheiten, die sie durch ihre Sucht bekommen. So wie bei mir.
Sebastian hat eine Grippe verschleppt. Es war 2005, er war Anfang dreißig, hatte gerade eine Ausbildung zum Grafikdesigner gemacht, einen Job bei einem großen deutschen Start-up-Unternehmen angetreten und eine eigene Wohnung in Berlin-Friedrichshain bezogen. Er war wieder clean vom Heroin, aber er arbeitete viel an den Werktagen und ging an den Wochenenden feiern – ob und welche Aufputschmittel im Spiel waren, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er nicht auf sich aufgepasst, aus der Grippe wurde eine Lungenentzündung und schließlich eine Embolie. Als der Schmerz zu groß wurde, ging er ins Krankenhaus, entließ sich aber wieder selbst, nach seinen Angaben wegen einer Fortbildung, die er unbedingt absolvieren wollte.
Er glaubte, nach den drei Tagen Workshop einfach wieder zurückkommen und dann stationär behandelt werden zu können. Aber sein Körper machte ihm einen Strich durch die Rechnung, nach nur einem Tag brach er zusammen und wurde von den Ärzten, weil sein Zustand inzwischen so kritisch war, in ein künstliches Koma versetzt.
Drei Monate lang lag Sebastian auf der Intensivstation. Seine Mutter, eine sehr nette Frau mit kurzen blonden Haaren und einem freundlichen Lächeln, lebte während dieser Zeit in seiner Wohnung und hat mit Sebastians neuer Freundin, die zufällig Krankenschwester war, um sein Leben gekämpft. Wir alle haben uns mit den Besuchen im Krankenhaus und mit der Kinderbetreuung abgewechselt. Natürlich nahm ich Phillip nicht mit ins Krankenhaus, er war erst neun, er sollte seinen Vater nicht so sehen mit all den Apparaturen. So etwas Schreckliches vergisst man sein Leben lang nicht, wenn man es als Kind sieht. Nur Silvester haben wir ihn einmal kurz mit seinem Vater telefonieren lassen. Sebastian sprach durch eine Trachealkanüle zu unserem Sohn.
Nachdem die Ärzte Sebastian aus dem Koma geholt hatten, musste er noch einmal operiert werden, weil sich ein Abszess in seiner Lunge gebildet hatte. Um den zu entfernen, haben sie drei seiner Rippen herausnehmen müssen, sein Herz liegt seit den Eingriffen völlig frei. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er wieder einigermaßen fit war.
Und als er sich gerade wieder allein zu Hause versorgen und längere Strecken laufen konnte, lief er vor einen Bus und wurde erneut lebensgefährlich verletzt.
Wir hatten alle befürchtet, dass das irgendwann einmal passieren würde, weil Sebastian einer dieser Menschen ist, die im Gehen Bücher lesen. Wie oft hat ihn jemand im letzten Augenblick vor einem vorbeifahrenden Auto oder einem dieser wilden Radfahrer, die es in Berlin zu Hunderttausenden gibt, gerettet. Und bumm, da war es passiert, 2006, nur ein Jahr nach der schweren Grippe.
Es hatte die restlichen Rippen zertrümmert. Er litt an inneren Blutungen. Dieser Bus hat ihn am Alexanderplatz frontal erwischt. Nach diesem Unfall musste Sebastian lange Zeit mit Opiaten behandelt werden. Das warf ihn in seiner Sucht natürlich wieder zurück.
Seit dem Unfall konnte er lange Zeit nicht mehr arbeiten, und seine Beziehung ist leider auch in die Brüche gegangen. Doch es ist eine schöne Wohnung, die er da hat. Eine, die sich viele wünschen, mit alten Dielen und Stuck und so. An ein paar Wochenenden im Jahr geht Phillip ihn dort besuchen. Manchmal verreisen sie auch zusammen für ein paar Tage. Sebastian ist inzwischen 40 und versucht, was er kann. Weder beruflich noch gesundheitlich konnte er sich wieder richtig fangen.
Als Phillip drei Jahre alt war, habe ich mit ihm zusammen noch einmal Urlaub in Griechenland gemacht. Ich bin wieder nach Athen, nach Kreta und an den Pounda Beach – auf der Suche nach Panagiotis. Der Eigentümer des Café Neon, in dem wir damals mit Maria und Christos immer waren, hatte ihn über das Mobiltelefon informiert. Inzwischen gab es Handys, die allerdings schwer waren wie Briketts. Drei Tage zu spät kam Panagiotis an, doch ich hatte meine Nummer hinterlassen, und er meldete sich tatsächlich, als ich schon wieder in Berlin war. Leider habe ich dann wenige Tage später mein Handy verloren. Das war 1999, seither habe ich nie wieder etwas von ihm
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